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Biel

Ihr Leben steht nicht länger still

Der Familie Safaryan/Mikayelyan aus Biel drohte die Ausschaffung. Zehn Jahre lang haben sich Vater und Mutter ein juristisches Tauziehen mit den Behörden geliefert. Das Blatt hat sich erst gewendet, als die Lage hoffnungslos schien.

Arpine Safaryan und Ashot Mikayelyan mit ihren drei Kindern Robert, Charlotta und Inessa. Anne-Camille Vaucher
  • Dossier
von Carmen Stalder
 
Auf dem Tisch stehen eine Kanne Schwarztee und ein Teller mit geschälten Mandarinen. Die Wohnung ist erfüllt vom süssen Duft von Blätterteiggebäck. In der Stube liegen fein säuberlich verpackte Päckchen: ein Adventskalender für Robert (8), Charlotta (7) und Inessa (4). Fast zwei Jahre sind vergangen seit dem letzten Besuch des «Bieler Tagblatt». Im Januar 2020, kurz nach den Festtagen, herrschte ebenfalls eine weihnachtliche Stimmung in der damaligen Wohnung der Familie Safaryan/Mikayelyan. Doch dieses Mal ist alles anders. Mit einem Lächeln schenkt Arpine Safaryan Tee in die Tassen. Ihr Mann Ashot Mikayelyan setzt sich neben sie. Vom Schmerz und der Trauer, die ihn gezeichnet haben, ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen erhellt ein Strahlen sein Gesicht.
 
Die Familie aus Biel hat dieses Jahr ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk erhalten. Es ist das schönste Geschenk, das sie sich erträumen konnte: eine Aufenthaltsbewilligung. An den Moment, an dem das Paar von der frohen Botschaft erfahren hat, kann es sich genau erinnern. Mikayelyan war gerade joggen, auf seiner Lieblingsstrecke von Mett nach Meinisberg. Da erhielt er den Anruf von seiner Frau. Er solle sich setzen, sagte sie zu ihm, sie habe gerade eine E-Mail bekommen. Mikayelyan befürchtete das Schlimmste. Zehn Jahre kämpften er und seine Frau dafür, dass sie und ihre drei Kinder in der Schweiz bleiben dürfen. Es ist eine Zeit, die geprägt war von abgelehnten Gesuchen und negativen Bescheiden. Aber nein, dieses Mal sei es eine positive Nachricht, beteuerte seine Frau. «Als sie es mir gesagt hat, fehlten mir die Worte», sagt er. Er habe nur gesagt: «Endlich!»
 
Ihr ging es nicht anders. Bis heute kann sie es manchmal kaum realisieren. Obwohl sie den Bescheid schwarz auf weiss hat. Obwohl sie kürzlich beim Migrationsdienst in Bern vorbeigegangen sind und es danach hiess, dass das nun ihr letzter Besuch gewesen sei. Obwohl sie gehört hat, wie Robert seiner kleinen Schwester Inessa erzählte, dass Mama jetzt arbeiten dürfe, und dass sie ihnen jetzt endlich selbst Spielzeug kaufen könne. Trotz alldem kann Arpine Safaryan kaum glauben, dass sie bleiben dürfen. Aber vielleicht ist das einfach so, dass sich die Gewissheit nach zehn Jahren Ungewissheit nur langsam durchzusetzen vermag.
 
Plötzlich papierlos
Die 42-jährige Arpine Safaryan und ihr drei Jahre älterer Mann, der bei seinem Onkel in Kasachstan aufgewachsen ist, sind 2012 aus Armenien in die Schweiz geflüchtet. Als politische Flüchtlinge baten sie um Asyl. Doch ihr Gesuch wurde abgelehnt. Sie reichten Rekurse ein und forderten erneute Überprüfungen ihrer Unterlagen. Alle Versuche scheiterten. Ihr Ausweis N für Asylsuchende lief 2014 ab, sie wurden zu Papierlosen. Schlimmer noch: Die mittlerweile fünfköpfige Familie erfuhr, dass sie die Schweiz getrennt verlassen muss. Der Vater sollte mit den beiden älteren Kindern nach Kasachstan, die Mutter mit der jüngsten Tochter nach Armenien ausreisen. Dies, weil die beiden Länder den jeweils ausländischen Ehepartner nicht bei sich aufnehmen wollten.
 
Die drohende Trennung der Familie bezeichnete Amnesty International in einem Bericht als Widerhandlung gegen das Recht auf Familieneinheit. Die Anwältin der Familie stellte bei der Stadt Biel ein Gesuch um eine Aufenthaltsbewilligung, begründet durch einen «schwerwiegenden persönlichen Härtefall». Der Bieler Verein «Alle Menschen» engagierte sich für die Familie. Lehrerinnen der Primarschule Sahligut wollten die drohende Abschiebung verhindern und verschickten einen Brief an den Stadtpräsidenten Erich Fehr (SP), an Bundesrätin Karin Keller-Sutter und an den Staatssekretär für Migration.
 
Im Januar 2020 erschien im BT ein Artikel über die Familie. Deren Schicksal berührte viele Leserinnen und Leser, und schliesslich kam Bewegung in die Politik. Fast die Hälfte des Bieler Stadtrats forderte den Gemeinderat dazu auf, politisch einzugreifen. Weiter haben über 1800 Menschen eine Petition an den Gemeinderat unterzeichnet. Trotz all dieser Unterstützung wurde die Situation für die Familie Safaryan/Mikayelyan immer auswegloser. Im Frühling 2020 schienen alle rechtlichen Wege ausgeschöpft. Es drohte ein Umzug in das Rückkehrzentrum Bözingen.
 
Doch dann, im Sommer 2020, zeichnete sich ein schmaler Silberstreifen am Horizont ab. Unter strengen Voraussetzungen erlaubt es der kantonale Migrationsdienst Privatpersonen, abgewiesene Asylsuchende bei sich zu Hause aufzunehmen. Und genau ein solcher Ausnahmefall kam dank der Unterstützung der reformierten Kirchgemeinde Biel und dessen Präsidenten Christoph Grupp zustande. Die Kirchgemeinde besitzt ein Haus in einem Wohnquartier in Mett, und ab Juli wurde darin Platz frei. Die Konzert- und Kirchenorganistin Pascale Van Coppenolle arbeitet für die Kirchgemeinde, wohnt in besagtem Haus – und gab der Migrationsbehörde die Zusage, dass sie die Familie bei sich aufnehme. «Ich fand die Vorstellung unmöglich, dass die Familie auf der Strasse oder im Rückkehrzentrum landet.» Ihren Entscheid habe sie nie bereut.
 
In den vergangenen eineinhalb Jahren habe sich zwischen ihr und den neuen Hausbewohnern ein enges Band gebildet. Gemeinsam mit Ashot Mikayelyan habe sie ein Hochbeet gebaut und den Garten unterhalten. Sie bezeichnet die Familie als hilfsbereit, lebendig und humorvoll. «Es war eine grosse Freude, sie bei mir zu haben. Wir werden uns sicher vermissen», sagt Van Coppenolle. Unterdessen hat die Kirchgemeinde das Haus nämlich verkauft. Sowohl Van Coppenolle als auch die Familie Safaryan/Mikayelyan müssen ihre Koffer packen und sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Bis im Sommer zieht die Familie in eine Wohnung der reformierten Kirchgemeinde im Bözingenquartier. Danach will sie ein dauerhaftes Dach über dem Kopf finden.
 
Klar menschenrechtswidrig
Im September 2020 begann der schmale Silberstreifen zu einem hellen Hoffnungsschimmer anzuwachsen. Eine neue Anwältin übernahm den Fall. Melanie Aebli schaffte es, der Familie Mut zu machen. Sie las sich durch den Aktenberg und entschied, es mit einem erneuten Härtefallgesuch zu probieren. «Es ist klar menschenrechtswidrig, die Familie zu trennen und ihr nach so vielen Jahren in der Schweiz, wo auch alle drei Kinder geboren wurden, kein würdiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Deshalb war ich überzeugt, etwas tun zu müssen», so Aebli. In den kommenden Monaten erhielt die Anwältin von der Familie, dem Verein «Alle Menschen», verschiedenen Kirchgemeinden und vielen weiteren Unterstützerinnen zahlreiche Unterlagen, mit denen sie ein umfassendes Dossier erstellen konnte.
 
Dieses sollte der Migrationsbehörde beweisen, dass die Familie gut integriert ist, dass Eltern und Kinder Deutsch sprechen, dass Arpine Safaryan und Ashot Mikayelyan über Arbeitsangebote verfügen und entsprechend auf eigenen Beinen stehen könnten. Weiter sollten die Unterlagen darlegen, dass eine gemeinsame Rückkehr nach Armenien oder Kasachstan unmöglich ist. «Keines der beiden Länder konnte eine Garantie liefern, dass die Familie tatsächlich zusammenbleiben kann. Das war für unser Gesuch ein sehr wichtiger Punkt», sagt die Anwältin.
 
Im November kam schliesslich der positive Entscheid, die erlösende Nachricht, auf welche die Familie so lange gewartet hatte. Doch warum dieser Meinungswechsel beim Kanton Bern? Wieso urteilte er nun doch zugunsten der Familie? Beim Amt für Bevölkerungsdienste will man sich aus «personen- und datenschutzrechtlichen Gründen» nicht zum konkreten Fall äussern. Sprecher Hannes Schade bejaht lediglich, dass eine Neubeurteilung etwa dann möglich sei, wenn ein Gesuch um weitere Unterlagen ergänzt wird, wenn sich die Sprachkenntnisse verbessert haben oder wenn die Lage im Herkunftsland anders eingeschätzt wird. Grundsätzlich seien Härtefälle an strenge Voraussetzungen geknüpft und würden in der Praxis stets Ausnahmen darstellen. Rudolf Albonico vom Verein «Alle Menschen» bestätigt dies: Aufgrund seines langjährigen Engagements für abgewiesene Asylsuchende wisse er von vielen Fällen, bei denen die Härtefallgesuche abgelehnt wurden. «Vor allem im Kanton Bern ist die Bewilligung eines Härtefallgesuchs für abgewiesene Asylsuchende eine absolute Ausnahme.»
 
Die Familie kann nur vermuten, warum es dieses Mal geklappt hat. So oder so sind sich alle befragten Personen einig, dass es sich bei Safaryans/Mikayelyans um einen speziellen Fall handelt, insbesondere, weil die drohende Trennung wie ein Damoklesschwert über ihnen gehangen hatte. Anwältin Melanie Aebli bezeichnet die riesige Unterstützung aus dem Umfeld der Familie und deren soziale Integration als aussergewöhnlich und mitentscheidend für den positiven Entscheid. Für die Bieler Stadträtin Anna Tanner (SP), die sich ebenfalls im Verein «Alle Menschen» engagiert, ist die Familie ein Vorzeigebeispiel, was eine gelungene Inklusion anbelangt.
 
Offene Zukunft
Zurück in der Wohnung im Mettquartier. Robert, Charlotta, Inessa, Arpine Safaryan und Ashot Mikayelyan setzen sich fürs Foto gemeinsam aufs Sofa. Die Kinder ziehen Grimassen, die Eltern schauen entspannt in die Kamera. Dank der Aufenthaltsbewilligung hat die Familie endlich eine Zukunftsperspektive. Diese Zukunft birgt allerdings viele Ungewissheiten. In den vergangenen Jahren durften Vater und Mutter nicht arbeiten und ihren Wohnort nicht selbst bestimmen. Ohne Ausweis durften sie kein Bibliotheksabonnement lösen, keinen Schlitten mieten und nicht reisen. Jetzt müssen sie plötzlich vieles.
 
Vor allem müssen sie Arbeit finden. Ashot Mikayelyan wird sein Geld kaum mehr als Zahnarzt verdienen können – seine Diplome sind hier nicht anerkannt und sowieso sind zu viele Jahre vergangen, seit er zuletzt in seinem Beruf gearbeitet hat. Er könnte sich vorstellen, als Hauswart oder Gärtner zu arbeiten. Ab Januar ist ihm schon einmal eine Stelle als Imker zugesagt worden. Arpine Safaryan hat früher ein Reisebüro geführt. Heute würde sie gerne in einer Tagesschule arbeiten, in einem Laden hinter der Theke stehen oder – noch besser – eine eigene Bäckerei eröffnen. «Eigentlich sind wir offen für alles, das kommt», sagt sie. Hauptsache, auf eigenen Beinen stehen und nicht mehr von anderen abhängig sein. Ihren Lebenslauf für Bewerbungen habe sie noch am Tag geschrieben, an dem die wichtige E-Mail angekommen ist.
 
Die Kinder verziehen sich in ihre Zimmer, die Eltern setzen sich zurück an den Tisch. Er isst ein paar Mandarinenschnitze, sie schenkt Tee nach. Dann werden sie nachdenklich. Manchmal kommt es ihnen vor, als wäre ihr Leben während zehn Jahren stillgestanden, sagen sie. Sie hätten eine Familie gegründet, ihre Kinder aufwachsen sehen – doch was ihre persönliche Entwicklung angehe, sei da eine grosse Leere. Womit sie diese füllen wollen, scheinen die beiden noch nicht so genau zu wissen. Ein paar Wünsche haben sie aber schon. Die Mutter wünscht sich einen Familienausflug ins Legoland. Der Vater möchte, dass seine Kinder ihre Grossmutter kennenlernen. Und er will ihnen das Meer zeigen. Das kann er nun endlich tun, jetzt, wo sie bleiben dürfen.

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