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Biel

Das Spital holt einen Piloten an Bord

Am Spitalzentrum Biel leitet künftig Mark Roth die Ärzteschaft. Bis vor einigen Tagen stand der 53-Jährige noch als Pilot 
im Einsatz. Was erhofft sich die Medizin von einem Spezialisten aus der Aviatik?

Mark Roth, Bild: Adrian Moser

Brigitte Walser

Vergangene Woche ist Mark Roth zum letzten Mal abgehoben. Für die Emirates Airline flog er von Dubai aus regelmässig den Riesenflieger Airbus A380. Ab März steht er rund 290 Ärztinnen und Ärzten vor. Der 53-jährige Pilot wird Direktor Medizin am Spitalzentrum Biel.

Wie kommt das Spital dazu, einen Piloten an die Spitze der Ärzteschaft zu stellen? Der Berufswechsel erfolgt nicht ganz so abrupt, wie es scheint. Mark Roth spezialisierte sich in den vergangenen Jahren auf das, was Medizin und Aviatik gemeinsam haben: Beides umfasst Arbeiten im Hochrisikobereich. Er war Prüfungsexperte bei Emirates Airline und bildete sich im Bereich Flugsicherheit weiter.

Erste Kontakte zur Medizin ergaben sich, als er vor fünf Jahren an einem medizinischen Kongress über Flugsicherheit referierte. Sein Interesse für Patientensicherheit war geweckt. Auf Einladung eines Arztes analysierte er die Arbeit im Operationssaal, es folgten Workshops und erste Mandate, darunter im Spitalzentrum Biel.

 

Mehr als Checklisten

Grosse Flugzeugunglücke führten dazu, dass die Aviatik schon früh Sicherheitsvorkehrungen standardisierte. Bei der Behandlung von Patienten traf man solche eher auf individueller Ebene. Seit 2004 geht in der Schweiz die Stiftung Patientensicherheit systematisch dem Thema nach, und in den vergangenen Jahren näherte sich die Medizin der Aviatik an.

Das bekannteste Beispiel sind Checklisten. Sie werden nicht nur vor jedem Flug abgearbeitet, sondern inzwischen auch vor Operationen. Eine gute Sicherheitskultur umfasst aber mehr: Es gehe um den Umgang mit Hierarchien, mit Verantwortung, mit einer gesunden Fehlerkultur und um Kommunikation, sagt Roth.

Er pickt ein Beispiel aus der Frauenklinik heraus: «Wie arbeiten eine erfahrene Hebamme und ein junger Assistenzarzt am besten zusammen?» Mark Roth betont, er bringe auf solche Fragen keine fertigen Rezepte mit – er zeige auf, mit welchen Mitteln die Aviatik arbeite. So erzählt er etwa vom Interventionsmodell, das Pilotinnen und Piloten lehrt, über Hierarchiestufen hinweg zu kommunizieren.

Roth erklärt, das Interventionsmodell beginne auf der untersten Stufe mit Fragen wie zum Beispiel «Hast du bemerkt, dass wir noch etwas hoch sind für den Anflug?». Es gehe dann über zu Vorschlägen wie «Ich könnte zusätzliche Distanz anfordern», wechsle zu direkten Ansagen wie «Ich fordere jetzt zusätzliche Distanz an» und ende in der Alarmstufe Rot: Take over.

Kann sich Roth also vorstellen, dass eine Assistenzärztin dem Chefarzt das Skalpell aus der Hand nimmt? Das sei vermutlich etwas zu weit gegriffen, antwortet er. Ärztinnen und Ärzte sollten selber definieren, was in einer bestimmten Situation geschehen müsse und welche Intervention am meisten zur Sicherheit beitrage.

 

«Eine Riesenchance»

Auch wenn es Gemeinsamkeiten zwischen Aviatik und Medizin gibt: Dass ein ärztlicher Direktor kein Mediziner ist, bleibt sehr ungewöhnlich. «Wir haben das analysiert», sagt Roth. Bei 70 bis 80 Prozent der Tätigkeiten gehe es um Management- und Führungsfragen, Organisationsentwicklung oder Rekrutierung. Die Aufgaben, für welche medizinische Expertise nötig ist, werden zwei Ärzte in der Spitalleitung übernehmen.

Wird von der Ärzteschaft ein Nicht-Mediziner an der Spitze akzeptiert? Die Wahlkommission habe sich einstimmig für Mark Roth entschieden, hält Spitaldirektor Kristian Schneider fest. Die Tätigkeiten, die Roth bereits im Mandat ausgeübt habe, seien hilfreich gewesen und hätten überzeugt. Mit dem neuen Direktor Medizin stelle das Spital den ärztlichen Mitarbeitenden Kompetenzen zur Verfügung, die «einmalig und eine Riesenchance» seien. In der Medienmitteilung des Spitals zur Ernennung hiess es: «Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Pilot an die Spitze eines Ärztekaders berufen wird.»

Medizin habe ihn immer interessiert, sagt Roth. Dennoch entschied er sich für die Fliegerei, arbeitete bei der Swissair und erlebte auch deren Grounding. Später zog der Zürcher Oberländer mit seiner Familie nach Dubai. 33 Jahre ist er geflogen, in dieser Zeit wurden Voicerecorder, Datenschreiber, Checklisten, Kommunikations- und Simulationstrainings selbstverständlich. Abläufe seien möglichst reglementiert und standardisiert. «Anders ginge es gar nicht, bei Emirates Airline arbeiten im Cockpit Menschen aus mehr als 100 Nationen.»

 

Die gemeinsame Sprache

Schemen strikt zu befolgen – ist es das, was gute Ärzte ausmacht? «Standardisierte Abläufe sind wie eine gemeinsame Sprache und erhöhen nachweislich die Sicherheit», hält Roth fest. Das gelte explizit in einem interdisziplinären oder interkulturellen Umfeld. Auch die medizinischen Richtlinien seien letztlich standardisiertes Erfahrungswissen. Sie seien eine Orientierung, beim konkreten Handlungs- oder Therapieentscheid sei dann aber Feintuning nötig.

Auch wenn er seinen Beruf darauf ausgerichtet hat: Mark Roth hütet sich, Aviatik und Medizin in einen Topf zu werfen. Aber er erkennt viele Parallelen und berichtet von einem weiteren Beispiel, das ihm in einem Operationssaal aufgefallen ist: Während der Operation habe er die Aufforderung gehört: «Gib mir 240.» Dann sei es still gewesen. Nach einer Weile habe die Person die Aufforderung wiederholt.

Piloten hingegen würden in sogenannter Closed-Loop-Kommunikation geschult: «Es gilt, Personen direkt anzusprechen und sofort eine Rückbestätigung zu geben. Das ist ein wichtiges Sicherheitselement.»

Und wie geht er selbst mit Risiken um? Wenn er den A380 mit über 500 Personen an Bord fliege, so helfe die grosse Erfahrung, den Flug ruhig anzugehen, sagt Roth. «Ich bin kein Risikomensch.» Also käme Bungee-Jumping für ihn nicht infrage? Der Familienvater überlegt nur kurz: «Doch, das könnte ich mir schon vorstellen.»

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