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Titelgeschichte

Wann kommt denn der Chirurg?

Der kommt nicht. Denn die Bieler Chirurgin Monika Richter ist schon längst da. Als Frau im OP musste sie sich so einiges anhören. Richter erzählt, wie sie damit umging. Und sie gibt einen Einblick in ihre Arbeitswelt zwischen Gallenblase und Magen.

Wenn Monika Richter operiert, denkt sie nicht an das Schicksal des Menschen. «Das muss so sein», sagt die 59-Jährige. Im OP dürfe es nur um die Krankheit gehen. Barbara Héritier
Interview: Hannah Frei
 
Monika Richter, wenn man hört, wie viel Chirurginnen und Chirurgen an einem Tag leisten müssen, fragt man sich: Wie geht das? Eigentlich hüpfen Sie ja von einer Prüfung zur nächsten.
Monika Richter: Klar, wir müssen immer bei der Sache sein. Aber es ist nicht alles nur Stress. Bei jeder Operation gibt es Teile, die sind absolute Routine. Da muss ich mir nicht viel dabei überlegen. Etwa am Ende der Operation, wenn es ums Zusammennähen geht. Dabei kann man sich im Team gut unterhalten. Und wenn man wirklich Konzentration braucht, muss man im OP manchmal sogar um Ruhe bitten. Dort wird nämlich viel geschwatzt.  
 
Denken Sie während einer Operation überhaupt an den Menschen, der da unter Ihnen liegt?
An die Person selbst nicht. Das muss so sein. In der Sprechstunde ist das natürlich anders. Da ist es meine Aufgabe, mich auf die Person einzulassen und mit ihr Lösungen zu finden. Im OP hingegen geht es nur um die Krankheit. Ich darf im Hintergrund nicht ständig daran denken, dass da jemand liegt, der drei kleine Kinder hat. Ich bin dann ganz bei der Gallenblase.
 
Ist es Ihnen einmal nicht gelungen, dies während einer OP abzuschalten?
Wenn es zu Komplikationen kommt, macht es für mich emotional schon einen Unterschied, wer da auf dem Tisch liegt, ob eine 90-Jährige oder eine junge Mutter. Ganz ausblenden kann ich das in diesen Momenten natürlich nicht. Aber ich muss es versuchen. Sonst leidet die Konzentration.
 
Sie müssen sich also emotional abgrenzen.
Genau. Deshalb würde ich auch niemanden aus meiner Familie operieren wollen. Auch bei einer Freundin hätte ich Mühe. Also wenn es etwas Kleines ist, dann schon. Aber grössere Operationen bestimmt nicht. Denn bei Menschen, die mir nahe sind, kann ich den Schritt zurück nicht machen.
 
Wie sieht Ihr Alltag konkret aus?
Morgens mache ich erst Visite, besuche die Patientinnen und Patienten, die ich am Vortag operiert habe. Um 7.45 Uhr gibt es den ersten Schnitt, wenn alles gut geht. Manche Operationen dauern nur zehn Minuten, andere drei bis vier Stunden. An solch lange Operationen gewöhnt man sich. Anfangs war das für mich hart. Aber ich denke immer: Andere Leute müssen auch acht Stunden am Tag stehen. Die fragt niemand, ob das geht. Und zwischen den Operationen habe ich meist Zeit für mich, kann etwas trinken gehen und mich hinsetzen. Achtstündige Operationen mach ich heute nicht mehr. Das habe ich während meiner Zeit im Spitalzentrum Biel oder an der Uniklinik genug gemacht.
 
Wenn Sie von 7.45 bis 17 Uhr operieren, dazu kommen noch die Visiten, dann sprechen wir hier aber nicht von acht Stunden Arbeit.
Ja, und wenn dann noch Notfälle dazu kommen, kann der Arbeitstag ganz schön lange dauern. Aber das ist nicht immer so.
 
Wie viele Stunden arbeiten Sie denn pro Woche?
Im Schnitt sind es heute 60 Stunden. Früher war es normal, dass man 80 Stunden oder mehr hatte.
 
Früher in Ihrer Assistenzzeit?
Ja, während der Assistenz- und Oberarztzeit.
 
Wie kommt es, dass 80 Stunden «normal» waren?
Das wurde damals gar nicht gross diskutiert, heute ist es gar nicht mehr erlaubt – Gott sei Dank. Der Vorteil war: Man konnte während der Ausbildungszeit wesentlich mehr Erfahrung sammeln, da man ja auch mehr miterleben durfte.
 
Auch 60 Stunden pro Woche sind nicht wenig, scheinen aber heute noch «normal» zu sein. Weshalb ist das Ganze überhaupt so organisiert, dass jemand wie Sie mit extrem viel Verantwortung ein solch hohes Pensum hat?
Ich bin selbstständig, für meine Arbeitszeit also selbst verantwortlich. Im Spital gelten während der Assistenzarztzeit heute 50 Stunden pro Woche. Da gehört auch die Ausbildung dazu. Es gibt einen ganzen Katalog mit Operationen, die jemand schon einmal gemacht haben muss, um bei der Prüfung zum Facharzt Chirurgie antreten zu können. Bei geringer Arbeitszeit muss sich die Ausbildungszeit also verlängern.
 
Ist denn da nicht das System falsch?
Also die 80 Stunden von früher finde ich nicht korrekt. Es ist ganz klar: Darunter leidet die Konzentration. Ein Pilot oder ein Buschauffeur hat klar geregelte Arbeitszeiten. Und die Einhaltung wird kontrolliert. Das sollte im Spital auch kontrolliert werden. Wie es in der Realität aussieht, wird sehr unterschiedlich gehandhabt.
 
Wie ist es denn bei Ihnen mit der Konzentration?
Wenn ich nachts um 2 Uhr wegen eines Notfalls geweckt werde, dann muss ich mich schon zuerst ein wenig sammeln. Aber sobald man im OP ist, steht man ohnehin stark unter Adrenalin. Da ist man sofort wach und konzentriert. Die Müdigkeit spürt man nicht mehr.
 
Wird das mit den Jahren und der Erfahrung auch einfacher?
Mit der Konzentration? Ja, aber ich brauche mehr Erholung dazwischen, etwa nach einem Nachteinsatz. Als Freiberufler, wie ich es bin, kann ich aber die Patienten vom nächsten Tag nicht einfach verschieben. Das ist, was mit der Zeit an einem nagt.
 
Auf Ihrer Website entschuldigen Sie sich dafür, dass Sie nicht rund um die Uhr erreichbar sind, wenn Sie in den Ferien oder an einem Kongress sind. Weshalb entschuldigen Sie sich dafür?
Die Patienten erwarten, dass ich immer erreichbar bin. Wenn ich jemanden am Wochenende operiere, kommen da manchmal schon witzige Reaktionen. Am Morgen nach der OP fragen sie mich, weshalb ich denn schon wieder und dazu noch am Wochenende da sei. Und am Abend wundern sie sich dann, weshalb ich nicht noch einmal bei ihnen vorbeischaue. Auf diese Haltung muss man sich in meinem Beruf halt einstellen und allenfalls mit einer Stellvertretung arbeiten.
 
Arbeiten Sie denn intensiv mit einer Stellvertretung zusammen?
Eigentlich wenig. Ich teile meine Praxis neu mit Dr. Karin Bläuer. Wir helfen uns zwar manchmal gegenseitig aus, aber das Ziel ist schon, dass jede von uns ihre eigenen Patienten betreut. Diese haben uns ja auch ausgesucht. Sie haben ein Anrecht darauf, dass ihr eigener Doktor erscheint.
 
Oder die Doktorin.
Gendersternchen gibt es bei mir nicht.
 
Aber Sie sind ja eine Doktorin. Weshalb reden Sie ausschliesslich von der männlichen Form?
Das ist Gewohnheit. Und auch heute kommt es durchaus vor, dass die Patienten einen Mann als Arzt wollen. Ich mag mich an Zeiten erinnern, als ich leitende Ärztin im Spitalzentrum Biel war und gemeinsam mit zwei weiteren Frauen, einer Oberärztin und einer Fachärztin ans Bett eines Patienten trat. Dabei war auch ein Unterassistent. Der Patient dreht sich zum Mann und begrüsste ihn mit «Herr Doktor».
 
Da lag er falsch.
Sehr falsch. Ein anderer beklagte sich einmal, er sei schon lange im Spital, und es sei noch nie ein Doktor bei ihm gewesen. Dabei war ich seine Doktorin. Es kam auch schon vor, dass jemand um 3 Uhr nachts offensichtlich skeptisch war und nicht von mir operiert werden wollte. Da hab ich ihm die Alternativen aufgezählt: Der Chef komme nicht um 3 Uhr nachts für einen Blinddarm. Ich hingegen mach das. Und ich kann das. Oder der Assistent macht es, der war schon einmal dabei bei einer solchen Operation, ich könnte ihm assistieren. Oder aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit, ein Student, ein Mann, der da ist, aber noch nie bei einer solchen Operation dabei war. «Jetzt dürfen Sie auswählen.» Das war natürlich ein bisschen gemein. Aber nachts um 3 Uhr nach einem langen Arbeitstag ist man manchmal nicht auf alles ganz gut zu sprechen.
 
Verständlich.
Mit zunehmendem Alter wird es als Frau aber besser, weil die Patienten einen als erfahrene Fachkraft erkennen und wahrnehmen. Aber auch heute ist man als Frau im OP immer noch nicht ganz den Männern gleichgestellt.
 
Was hat sich diesbezüglich bis heute verändert?
Wenn man sich als Frau entscheidet, in die Chirurgie zu gehen, ist das heute keine grosse Sache mehr. Im Medizinstudium sind über 50 Prozent Frauen. In der Chirurgie sind es zwar noch deutlich weniger, aber es sind mehr geworden. Als ich mit dem Studium begonnen habe, gab es kaum Frauen in diesem Bereich. Auch, als ich in die Schweiz kam, kannte ich dann bald die wenigen Frauen in der Chirurgie. Damals hatte ein Chirurg ein Mann zu sein. Punkt. Dass das auch eine Frau sein kann, war für viele gar nicht vorstellbar. Das lag bestimmt daran, dass es eben nur so wenige gab. Das ist heute anders.
 
Haben Sie im OP jemals Sexismus erlebt?
Ja. Also nie wirklich in dem Sinne bösartig. Aber es kam schon vor, dass ich eigentlich für gewisse Dinge eingeplant gewesen wäre, kompliziertere Dinge, und dann der Oberarzt sagte: «Ich zeige es Dir nochmals.» Ich musste mich dafür einsetzen, dass ich auch diese Operationen machen darf. In meiner Assistenzzeit wurde mir auch häufig auf die Finger geschaut, um zu sehen, ob ich das denn auch wirklich könne. Ich war ja auch lange in der Unfallchirurgie tätig, bei der man manchmal körperlich an die Grenze kam, etwa beim Halten oder beim Sägen. Wenn dann noch ein dummer Spruch von einem Kollegen kommt, der fragt, ob ich das denn noch schaffe, habe ich das nicht immer so gut weggesteckt. Sich ständig rechtfertigen zu müssen, war mühsam. Aber von den dummen Sprüchen gab es früher deutlich mehr.
 
Sie sagten kürzlich in einem Interview, dass Frauen in der Chirurgie doppelt so hart arbeiten müssen, um gleichwertig wie ein Mann angesehen zu werden.
Dazu stehe ich. Auf dem Assistenzarzt-Level vielleicht weniger. Aber viele dieser Assistenzärztinnen ziehen es nicht durch, ob sie nun eine solche Ungleichbehandlung spüren oder weil ihnen der Zeitaufwand doch zu gross ist, und wechseln in eine andere Fachrichtung. Es gibt etliche, die nach dem Ausstieg sagen, das sei ihnen nun doch zu viel. Und wie viele von denen, die bleiben, eine Oberarztposition erhalten, und wie viele von denen auch noch eine leitende Funktion haben, da gibt es eine gläserne Decke. Es ist nicht unmöglich. Aber es ist deutlich schwieriger.
 
Weshalb?
Dies ist sicher vielschichtig. Klar gibt es auch zahlreiche, die es wegen der Vereinbarkeit mit der Familie gar nicht wollen. Aber man hat als Frau immer noch nicht die gleichen Chancen.
 
In den Verwaltungsräten gibt es auch kaum Frauen. Als es die Linde Holding Biel/Bienne AG noch gab, waren sie die einzige Frau im Verwaltungsrat.
Die Erste und die Letzte. Bevor ich für das Amt zugesagt habe, machte ich mir extrem viele Gedanken darüber, ob ich das denn auch könne. Mit der Verwaltung hatte ich bisher auch nicht viel zu tun. Ich habe mich dann bei Bekannten erkundigt, die bereits seit Jahren in ähnlichen Ämtern sind, und mir Tipps geholt. Ich weiss, dass sich meine Kollegen, die in den Verwaltungsrat wollen, nie Gedanken darüber gemacht haben, ob sie dafür eine Zusatzausbildung bräuchten. Die haben das einfach gemacht.
 
Und, hat es bei Ihnen ohne Zusatzausbildung geklappt?
Ja, aber es war sehr zeitaufwendig, schon alleine die Sitzungen und deren Vorbereitungen. Da sass ich einmal pro Woche vor einem Berg mit Unterlagen. Diese arbeitete ich jeweils durch. Dort habe ich auch gemerkt, dass Frauen und Männer nicht gleich ticken.
 
Im Verwaltungsrat?
Nicht nur. Das spürte ich wohl schon immer in meinem Beruf. Aber im Verwaltungsrat ist es mir deutlich bewusst geworden.
 
Weshalb sind Sie eigentlich Chirurgin geworden? Haben die hohe Arbeitsbelastung und die Überstunden Sie nicht abgeschreckt?
Das habe ich mir damals gar nicht überlegt. Stress haben ja auch andere. Ich wollte schon immer etwas mit den Händen machen, nicht nur am Schreibtisch oder am Patientenbett sitzen. Dieses Handwerkliche fand ich faszinierend. Und ich hatte natürlich auch Vorbilder. In meinem ersten Praktikum im Medizinstudium war da eine Chirurgin, die mich stark beeindruckt hat. Die machte alles so souverän. Und sie zeigte mir: Doch, das geht auch als Frau.
 
War es denn für Sie sogar ein Anreiz, diesen Weg zu gehen, um den anderen zu zeigen, dass es Frauen in der Chirurgie schaffen?
Nein, das sicher nicht. Im Gegenteil. Ob ich mir das jetzt eingestehen möchte oder nicht: Frauen hinterfragen sich viel häufiger, und damit auch das, was sie leisten können. Ich stellte mir immer wieder die Frage, ob ich in der Chirurgie am richtigen Ort bin. Dieses Phänomen führt wohl auch dazu, dass es in solchen Bereichen, in denen viel von einem abverlangt wird, weniger Frauen sind. Dabei muss man halt einfach einmal hinstehen und es machen.
 
Sie wollten etwas Handwerkliches machen. Da hätten Sie ja auch Schreinerin werden können. Weshalb aber in der Medizin?
Medizin fand ich schon immer spannend. Ich hatte nie eine Hemmschwelle, was Blut und Gedärme anbelangt. Der menschliche Körper ist etwas Schönes. Da hinein zu schauen ist faszinierend. Und wir haben wahrscheinlich alle ein gewisses Helfersyndrom.
 
Spüren Sie dieses Helfersyndrom auch privat?
Wahrscheinlich schon.
 
Wollen Sie sich das nicht ganz eingestehen?
Wohl nicht, nein.
 
Haben Sie Kinder?
Nein. Dazu ist es nicht gekommen. Aber nicht aus beruflichen Gründen. Man muss aber schon sagen, dass mir dies den Rücken freigehalten hat, um in Führungspositionen zu gelangen. Mein Mann war für mich immer eine grosse Stütze. Ohne ihn hätte ich das ganz sicher nicht geschafft. Wenn wir nur das essen würden, was ich schaffe, einzukaufen und zu kochen, dann wären wir extrem schlank. Früher konnte ich nur ganz selten zu regulären Zeiten einkaufen gehen. Heute ist das eher möglich, da kann ich mir das besser einrichten.
 
Sofern kein Notfall reinkommt. Ist Ihr Handy immer auf laut gestellt?
Ja, Tag und Nacht. Nur selten, wenn ich keinen stationären Patienten habe, kann ich das Telefon auch einmal abschalten. Und in den Ferien. Da greift dann die Stellvertretung in Notfällen.
 
Ihre Praxis in Biel werden Sie in diesem Jahr an Ihre Stellvertreterin Karin Bläuer weitergeben. Weshalb?
Zurzeit arbeite ich ja noch voll, es soll aber immer weniger werden. Es ist ein grosses Glück, dass ich eine Nachfolgerin gefunden habe. Sie wird meine Patienten übernehmen. Für mich ist es sehr schön, zu wissen, dass ich meine Patienten an sie weitergeben kann und sie sich nicht jemand Neues suchen müssen. Ich werde weiterhin assistieren, also bei den Operationen helfen. Aber das ganze Drumherum fällt für mich weg: die Visiten, die Sprechstunden, das Organisatorische. Darauf freue ich mich.
 
Dann haben Sie also nur noch Kontakt zu der Gallenblase und nicht mehr zur Person.
Könnte man so sagen. Aber natürlich weiterhin zu Personen aus dem Team. Man muss wissen: Die Atmosphäre in einem Operationssaal ist sehr schön, wie da gearbeitet wird, wie das Team ineinandergreift, wie man einander hilft. Wenn man einem Menschen helfen kann, der notfallmässig zu uns gekommen ist, ist das ein schöner Moment. Alle, die in der Chirurgie arbeiten, sind kleine Adrenalinjunkies. Und man sieht unmittelbar danach ein Ergebnis. Man operiert, und meist kurze Zeit später ist der Mensch wieder gesund. Das ist ein Erfolgserlebnis. Das alles möchte ich vorerst nicht missen.
 
Wenn Sie ans Aufhören denken, fürchten Sie sich davor, dass Ihnen diese Erfolgserlebnisse fehlen?
Ich habe keine Angst davor, in ein grosses Loch zu fallen. Ich werde mir dann andere Dinge suchen, die mich erfüllen. Ich hätte mehr die Sorge, den richtigen Moment zum Ausstieg zu verpassen, wenn die Leistungsfähigkeit nachlässt, wenn Fehler passieren. In der Medizin gibt es Probleme, es kann nicht alles gut gehen, aber bitte keine «selbst verschuldeten». Das könnte ich nicht wegstecken. Ich will aber auch nicht eine von denen sein, die sich da keine Gedanken darüber machen. Das muss einen betreffen.
 
Ist Ihnen da ein Fall besonders geblieben?
Kein konkreter. Für mich ist es schon schlimm, wenn ich beispielsweise bei einem Krebspatienten während der Operation feststelle, dass der ganze Körper von den Krebszellen betroffen ist und man ihn nicht heilen kann. Dann fragt man sich: Hätte ich nicht doch noch etwas machen können? Im OP hat man eben keine Zeit, seine Pläne zu hinterfragen und ständig zu überarbeiten. Da müssen rasche Entscheide gefällt werden. Und danach fragt man sich manchmal, ob sie richtig waren.
 
Wie verarbeiten Sie diese Momente?
Man muss mit jemandem reden können, zum einen im Team, zum anderen auch daheim. Ich bin sehr dankbar, dass ich zuhause über so etwas sprechen kann. Das ist nicht selbstverständlich. Für manche Ehepartner ist das ja häufig zu «grusig». Für meinen Mann nicht. Und er versteht auch, wovon ich spreche. Diesen Rückhalt braucht es. Anders würde ich das nicht schaffen. Grundsätzlich muss man sich auch damit zurechtfinden, dass im Leben eben nicht immer alles so läuft, wie man sich das wünscht.
 
Während Ihrer Zeit als Chirurgin hat sich technisch einiges getan. Was war für Sie da die grösste Innovation?
Bei Innovationen muss man gut schauen, inwiefern diese im OP überhaupt sinnvoll eingesetzt werden kann und ob sie auch tatsächlich etwas verbessert. Als die Laparoskopie (Operationsmethode, bei der man mithilfe einer kleinen Kamera und verlängertem Operationsbesteck Eingriffe ohne grossen Schnitt machen kann, Anm. der Red.) kam, war das natürlich eine deutliche Verbesserung. Damit konnte man grosse Schnitte vermeiden. Heute wird diese Methode sehr häufig angewandt. Zurzeit sind aber auch Roboter im Kommen. Die bieten Vorteile: Man kann etwa angenehm im Sitzen operieren und muss sich nicht verrenken. Aber Aufwand und Ertrag müssen stimmen. Ein solcher Roboter kostet etwa eine Million Franken. Und die Operationen mit diesem Roboter sind nicht kostendeckend. Da zahlt also irgendjemand drauf. Daher muss man sich ganz gut überlegen, ob der Robotereinsatz dem Patienten wirklich so viel bringt, dass es gerechtfertigt ist, diese Zusatzkosten jemandem anzuhängen, ob dem Steuerzahler oder wem auch immer.
 
Gibt es zurzeit Operationen, bei denen man klar sagen kann, dass der Roboter Vorteile bringt?
Im Moment praktisch nicht. Die Studien zeigen meist, dass die Ergebnisse gleichwertig sind. Durch den Zusatzaufwand befinden sich die Patienten aber meist länger unter Narkose, was negativ ist. Zudem übernimmt der Roboter auch Arbeiten, die sonst die Assistenten machen. Insofern bin ich in Bezug auf Roboter eher zurückhaltend. In der Klinik Linde stellt sich diese Frage aber gar nicht, da wir keinen Roboter haben.
 
Gibt es ein Gerät, das Sie sich wünschen würden?
Uns geht es gut. Wir sind in der Klinik sehr gut ausgestattet. Wer weiss, vielleicht gibt es ja irgendwann ein Gerät, das einen Körper scannen kann, eine Krankheit erkennen und sie gerade heilen kann. Wie in einem Science Fiction-Film. Das wäre natürlich toll. Aber soweit sind wir noch nicht.
 
 
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Zur Person

  • Geboren 1962 in Baden-Württemberg (DE) geboren, Medizinstudium in Würzburg, Ausbildung zur Fachärztin Chirurgie in Bad Säckingen sowie am Kantonsspital Basel und am St. Claraspital in Basel
  • Arbeitete 13 Jahre lang im Spitalzentrum Biel, wo sie 2003 die Weiterbildung Viszeralchirurgie sowie Allgemeinchirurgie und Unfallchirurgie absolvierte
  • Ist seit 13 Jahren Belegärztin an der Hirslanden Klinik Linde in Biel und hat eine eigene Praxis
  • Arbeitet zudem seit 2012 als Belegärztin an der Klinik Beau-Site in Bern
  • Übergibt im Laufe dieses Jahres ihre Praxis an Chirurgin Karin Bläuer
  • Wohnt mit ihrem Mann in Bellmund   haf

 

Frauen in der Chirurgie

Der Arztberuf ist in der Schweiz längst kein Männerberuf mehr: Spätestens seit der Jahrtausendwende ist der Frauenanteil bei den Diplomen in der Humanmedizin deutlich gestiegen, wie den aktuellen Zahlen des Bundesamts für Statistik zu entnehmen ist. Im Jahr 2020 lag der Frauenanteil bei den neu vergebenen eidgenössischen Weiterbildungstiteln sogar bei 57 Prozent. Der Anteil variiert jedoch stark zwischen den verschiedenen Fachrichtungen. Die meisten Frauen findet man in der Gynäkologie und Geburtshilfe, und zwar mit einem Anteil von 91 Prozent. In der orthopädischen Chirurgie und der Traumatologie (Unfallchirurgie) sind jedoch lediglich 13 Prozent Frauen. In der Allgemeinen Inneren Medizin sowie der Psychiatrie und der Fachrichtung Praktische Ärztinnen und Ärzte wurden 2020 hingegen mehr Diplome an Frauen verteilt als an Männer.   haf

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