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Konzert

«Heute erlebe ich jeden Auftritt
vor Publikum als etwas Besonderes»

Claire Huangci hätte diese Woche in zwei Auftritten alle Klavierkonzerte von Sergej Prokofiev spielen sollen. Corona hat die Pläne von Theater Orchester Biel Solothurn durchkreuzt. Die Starpianistin spielt trotzdem, aber ein neues Programm.

Bild: zvg

Annelise Alder

«Wir haben gelernt, kühlen Kopf zu bewahren», sagt Kaspar Zehnder über den Umgang mit der derzeit schwierigen Situation. Corona hat nämlich einmal mehr sämtliche Pläne durchkreuzt. Theater Orchester Biel Solothurn (Tobs) trifft es gerade besonders heftig. Nicht nur musste die Premiere von Goethes «Faust» in Solothurn und in Biel verschoben werden. Auch im Sinfonieorchester «fällt beinahe stündlich jemand in den positiven Status», sagte Kaspar Zehnder vergangenen Freitag. Das hat diese Woche besonders schmerzhafte Folgen.

Auf dem Programm von Tobs stand ein Herzensprojekt des scheidenden Konzertdirektors und Chefdirigenten des Sinfonieorchesters Biel Solothurn: sämtliche fünf Klavierkonzerte von Sergej Prokofiev mit der weltweit gefeierten Pianistin Claire Huangci als Solistin, verteilt auf zwei Konzerte. Die Konzerte hätten zudem live auf CD aufgezeichnet werden sollen.

 

Aus der Not ein «Menu suprise» entwickelt

Nun fällt das Projekt ins Wasser. Dirigent, Solistin und das Orchester lassen den Kopf jedoch nicht hängen. Im Gegenteil: «Ich komme trotzdem nach Biel», sagt die Pianistin im Gespräch. Es fand via Bildschirm statt. Distanz war gefordert, weil auch Claire Huangci an Corona erkrankt war. Sie befindet sich in den letzten Quarantäne-Tagen und trifft deshalb ein paar Tage später als geplant in Biel ein. Zu spät aber, um zusammen mit dem Orchester das schwierige Prokofiev-Programm auf den Punkt zu bringen.

Für das Orchester ist eine Aufführung sämtlicher Klavierkonzerte des russischen Komponisten auch in reduzierter Besetzung ebenfalls undenkbar. «Die Werke gehen an die Besetzungsgrenzen unseres Orchesters», sagt Kaspar Zehnder. «Wir sind auf jedes einzelne Mitglied angewiesen.» Und Claire Huangci doppelt nach: «Prokofiev ist für Klavier und für Orchester äusserst anspruchsvoll.» Deshalb haben sich die beiden für ein komplett neues Programm in kleiner Besetzung entschieden.

Prokofiev ist darin auch zu finden, nämlich die Flötensonate. Daneben wird das Klavierquintett von Antonín Dvořák zu hören sein. Am Freitag stehen Klavierkonzerte von Bach und Chopin auf dem Programm, begleitet vom Orchester in Kleinstbesetzung. «Das Programm ist ganz auf Claire zugeschnitten», sagt Kaspar Zehnder.

 

Geübt wird auf dem Klavier und in Gedanken

Auch Claire Huangci geht erstaunlich locker mit der ungewöhnlichen Situation um. «Ich weiss erst seit einer Stunde, dass ich zwei ganz neue Konzertprogramme einstudieren muss», sagte sie vergangenen Freitag. Ob sie nun Tag und Nacht üben werde? «Ich spiele nur etwa drei Stunden am Tag Klavier, verbringe aber viel Zeit mit dem Studium von Partituren.» Kaspar Zehnder wird sich auf die Pianistin verlassen können: «Sie hat einen grossen Rucksack an Sololiteratur, Kammermusik und Konzerten, die man auch mit sehr kleiner Orchesterbesetzung spielen kann». Er wird es wissen, denn er kennt sie schon seit mehreren Jahren.

Dem klavierbegeisterten Bieler Publikum ist die Pianistin ebenfalls wohlbekannt. Wer ihre Auftritte im Farel-Saal erlebt hat, weiss ebenfalls, was zu erwarten ist: Aussergewöhnliche Konzerte, die lange in der Erinnerung nachklingen werden. Die amerikanische Pianistin chinesischer Abstammung ist nämlich eine Ausnahmeerscheinung. Ins breite öffentliche Rampenlicht trat sie mit dem Gewinn des Concours Géza Anda in Zürich im Jahr 2018. Seither reissen sich die grossen Konzertveranstalter um sie.

Doch Corona setzte auch Claire Huangci zu. In den letzten beiden Jahren spielte sie statt live-Darbietungen vermehrt Geisterkonzerte ohne Publikum. Sie wurden dafür online gestreamt. Die mediengewandte Pianistin wusste das neue Konzertformat gut zu nutzen. In den Videos, die im Netz zu sehen sind, gibt sie auch Auskunft über die Werke, die sie spielt. Auf diese Weise knüpft sie Kontakt zum Publikum. Umgekehrt lässt sie es an ihren Gedanken teilhaben. Diese offenbaren eine Persönlichkeit, die sich eingehend mit der Bedeutung und Wirkung von klassischer Musik auseinandersetzt.

 

Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden

Die erst 31-jährige Pianistin wirkt zugänglich und sympathisch. «Ich habe die Zeit des Lockdown genutzt, um mein Repertoire zu erweitern», erzählt sie in fliessendem Deutsch. Die Sprache hat sie sich während ihrer Studienjahre in Hannover angeeignet. Nach wie vor ist sie mit dem nördlichen Nachbarland verbunden: Seit Kurzem lebt die gebürtige Amerikanerin in Frankfurt. «Ich gebe weltweit Konzerte, zuhause bin ich aber mitten in Europa.» Von hier aus realisiert sie ihre teils bemerkenswerten Projekte. Im Beethovenjahr 2020 etwa spielte sie die sechste Sinfonie des Meisters in einer Fassung für Klavier und Streichquartett und die neunte in einer für zwei Klaviere und kleinen Chor.

Doch die Pandemie hinterliess auch bei Claire Huangci eine deutliche Zäsur. «Konzerte geben, ist für mich nicht mehr selbstverständlich. Jeder Auftritt ist für mich wertvoller und dringlicher geworden. Heute erlebe ich jedes Konzert vor Publikum als einen besonderen Moment.»

Umso gespannter darf man daher auf die kommenden Auftritte der jungen Ausnahmekünstlerin sein. Sie finden Morgen und am Freitag im Kongresshaus statt - zusammen mit Mitgliedern des Sinfonieorchester Biel Solothurn und Kaspar Zehnder als Flötist.

Info: Programmdetails unter www.tobs.ch

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