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Corona

Personalmangel: Team der Intensivstation schiebt 15-Stunden-Schichten

Personal in Isolation und Quarantäne hat die Intensivstation im Spitalzentrum Biel in eine prekäre Lage gebracht. Warum auch ein Mangel an Pflegefachkräften zu Triagesituationen führen kann, erklärt Chefarzt Marcus Laube.

Die Arbeitstage von Marcus Laube dauern derzeit von morgens um halb sieben bis abends um zehn. Barbara Héritier
Interview: Brigitte Jeckelmann
Marcus Laube, die Omikron-Variante des Coronavirus breitet sich rasend schnell aus. Sie geht zwar mit milderen Symptomen und weniger Schwerkranken einher, führt aber in Spitälern zu Engpässen. Wie ist die Situation im Spitalzentrum?
Marcus Laube: Es fallen immer wieder Mitarbeitende aus. Nicht etwa, weil sie krank sind, sondern wegen Isolation oder Quarantäne. Die Folge war, dass eines von neun Intensivbetten wegen Personalmangels vorübergehend geschlossen werden musste. Kürzlich war die Lage auf der Intensivstation prekär: Von sechs Assistenzärzten waren gleichzeitig zwei in Isolation und einer neu im Haus. Es braucht aber sechs Assistenzärzte, um die nötige Präsenz sieben Tage die Woche rund um die Uhr sicherzustellen. Kolleginnen und Kollegen von den anderen Kliniken konnten nicht aushelfen, weil sie ebenfalls Ausfälle hatten. So mussten die Kader für die Nachtdienste einspringen, was eigentlich nicht so vorgesehen ist. Meine Tage und jene der leitenden Ärzte dauern je nachdem von halb sieben Uhr morgens bis abends um zehn. 
 
Letzte Woche hat der Bundesrat beschlossen, die Dauer von Isolation und Quarantäne ab sofort auf fünf Tage zu verkürzen. Hat das die Lage etwas entschärft?
So können wir die Betreuung der Patienten gewährleisten, ohne die gesunden Mitarbeitenden komplett zu erschöpfen. Für eine frühere Rückkehr aus Quarantäne und insbesondere Isolation gelten aber strenge Vorgaben. Der Entscheid hat klar gemacht, dass jeder Bereich Kompromisse eingehen muss: die Wirtschaft, das Gesundheitssystem und das öffentliche Leben. 
 
Hat das einen Einfluss auf die Triage?
Ja, denn dadurch vermindert sich die Wahrscheinlichkeit, dass es aufgrund eines Personalmangels zu einer Triagesituation kommt.
 
Können Sie das erklären?
Plätze auf der Intensivmedizin fehlen nicht nur, wenn es zu viele Patientinnen und Patienten gibt, sondern auch, wenn die Menschen fehlen, die die Ausbildung und das Wissen haben, um die Betroffenen fachgerecht zu betreuen. Wenn infolge Quarantäne oder Isolation zu wenig Personal da ist, kann man dieses nicht von heute auf morgen ersetzen. Der Bundesrat hatte die schwierige Aufgabe, eine Situation zu schaffen, die nicht nur verhindert, dass es aufgrund fehlender Betten zu Versorgungsengpässen kommt, sondern auch nicht wegen eines Mangels an Personal. Dafür musste er einen Kompromiss eingehen zwischen einer möglichst hohen Sicherheit und einem gewissen Risiko, dass sich mehr Menschen anstecken. 
 
In den letzten Wochen war oft die Rede von Triage. Ende Dezember hatte sich die Situation im Kanton Luzern derart zugespitzt, dass man sich im Kantonsspital auf die Möglichkeit einer harten Triage vorbereitete. Im Frühling vor zwei Jahren hat die schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften Richtlinien für die Triage in ausserordentlichen Lagen erlassen. Es gab zunächst harsche Kritik. Hochaltrige, Krebskranke und Menschen mit einer Behinderung, fühlten sich benachteiligt. Nun ist auch der Impfstatus Thema – sollen Ungeimpfte zugunsten anderer auf Intensivmedizin verzichten? 
Eins vorweg: Eine Triage im Sinne, dass Menschen, die Intensivmedizin brauchen, keine bekommen, findet im Moment nicht statt. Wie es in den Richtlinien steht, sollen die Mediziner nicht Richter sein – und das wollen wir auch nicht. Wir behandeln alle Menschen, solange es im Interesse des Patienten ist. Dies selbstverständlich unabhängig von Impfstatus, Verschulden oder Nichtverschulden – und mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Das Problem beginnt, wenn wir diese Mittel nicht mehr haben. Dann werden Menschen mit einer aussichtslosen Krankheit oder mit schleppenden Fortschritten in der Therapie eine intensivmedizinische Behandlung nicht bekommen, wenn gleichzeitig andere Patienten eindeutig davon profitieren. In den Richtlinien steht zudem, dass es eine Rolle spielt, wie lange ein Patient Intensivmedizin und damit ein Therapiebett benötigt. Bei Covid-Patienten sind das meistens mehrere Wochen. Die Strukturen der Intensivstationen sind aber auf eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer von zwei bis maximal drei Tagen ausgelegt. So können eine grössere Anzahl Covid-Patienten den Betrieb einer Intensivstation buchstäblich blockieren. 
 
Wie viele Covid-Patienten liegen derzeit auf der Intensivstation im Spitalzentrum?
Im Moment belegen sie vier von neun Betten. Einer ist über 40 Tage hier, der andere mehr als 30, und einer bald zwei Wochen. Zwei von ihnen sind geimpft, waren aber schon vorher schwer krank, zwei sind ungeimpft. Was wir beobachten: Alle zuvor Gesunden, die schwer krank mit Covid ins Spital kommen, sind ungeimpft. Wir hatten auch junge, weit unter 50-jährige Patienten, die wir ins Inselspital verlegen mussten, weil sie die Herz-Lungen-Maschine brauchten. Alle haben sie lange Leidenszeiten, die traumatisierend sein können. Einige Covid-Patienten haben die Krankheit zwar überlebt, sind aber jetzt wegen Panikstörungen in Behandlung oder leiden unter anderen Langzeitfolgen. Mich macht der Gedanke traurig, dass dieses Leid diesen – bisher gesunden – Menschen mit einer Impfung wahrscheinlich hätte erspart werden können. 
 
Zurück zur Triage: Sie sagten, dass auch die Dauer der benötigten intensivmedizinischen Behandlung eine Rolle spielt - warum?
In einer Triagesituation bei wenig bis gar keinen freien Betten würden verschiedene Abwägungen zum Tragen kommen. Bei einem Patienten, von dem zu erwarten ist, dass ein paar Tage Intensivmedizin zur Erholung nicht ausreichen, würde man sich fragen, wie sinnvoll diese intensive Therapie überhaupt wäre. Wenn ersichtlich ist, dass der Patient – mit unsicherem Ausgang – drei Wochen auf der Intensivmedizin bleibt, während ein anderer sterben müsste, würde der Entscheid in einer Triagesituation zugunsten des Letzteren ausfallen.
In dem Sinn spielen sich die Ungeimpften die schlechteren Karten also schon selber zu.
Ja. Denn sie gehören erfahrungsgemäss zu jenen Patienten, die lange und viele Ressourcen brauchen. Und wenn man zu wenig davon hat, muss man diese anders verteilen. Ich bin «gottenfroh», dass ich solche Entscheide im Augenblick nicht fällen muss. Die ungeimpften Corona-Patienten sind aber nicht unser einziges Problem.
 
Welche gibt es noch?
Patienten, die zwar nicht wegen Covid im Spital sind, aber bei der Eintrittsuntersuchung einen positiven Test haben, binden so oder so mehr Ressourcen: Man muss sie isolieren. Bevor die Pflegenden den Patienten im Zimmer betreuen, müssen sie Schutzanzüge, Maske, Handschuhe und Brille überziehen, und wenn sie wieder hinausgehen, alles wieder ausziehen. Solche Handlungen mehrmals täglich auszuf ühren, werden schnell zu Stunden. Und die fehlen dann für andere Dienstleistungen. Dasselbe spielt sich beim Personal ab. Wir müssen nach wie vor damit rechnen, dass von einem Tag auf den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Tage in Isolation oder Quarantäne müssen. Was uns bleibt: Wir können beim Kanton Ausnahmebewilligungen beantragen, damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter früher wieder aus der Isolation oder Quarantäne entlassen werden und zur Arbeit gehen können. Daneben holen wir das Personal aus den Ferien oder den freien Tagen zurück. Und natürlich hilft uns auch der Beschluss des Bundesrats. 
Funktionieren des Betriebs auf Kosten der Erholung  – kann das auf Dauer gut gehen?
Hier stellt sich das nächste Problem: Wenn wir eine Triagesituation vermeiden wollen, müssen wir das Team pflegen. Die Mitarbeitenden sollen die notwendige Energie und Motivation behalten. Sonst besteht das Risiko, dass sie ausbrennen, aufgeben und die Stelle künden. Das wäre schlimm. Denn man findet heute auf die Schnelle keine ausgebildeten Pflegefachkräfte per Inserat. Es meldet sich sehr selten jemand mit der geforderten Kompetenz. Bei den Ärzten ist es dasselbe und dies in allen Spitälern der Schweiz.
 
Was tun Sie, um die Motivation im Team zu erhalten?
Zuhören, den emotionalen Konflikten und Fragen eine Plattform zu bieten – das sind für mich zentrale Elemente, um das Team zu unterstützen. Das kann man aus meiner Sicht nicht einfach mit mehr Lohn erreichen. 
 
Womit dann?
Man muss sich Zeit nehmen für Gespräche, nachfragen, wie es geht, wenn jemand ausgelaugt wirkt. Das ist gut investierte Zeit. Und wir haben sie momentan – noch. Wir müssen dafür sorgen, dass das Personal jetzt Kräfte tanken kann für den Zeitpunkt, wenn sich die Situation zuspitzt. Das Ziel ist eine bestmögliche Verfassung, um für die nächste Stressepisode gewappnet zu sein. Zu Beginn der Pandemie gingen wir von einem Marathon aus – jetzt ist daraus ein Ironman geworden. Unsere Abteilung hat ausserdem zur Unterstützung des Teams in Belastungssituationen neu eine Psychologin gewinnen können. Sie soll helfen, Antworten zu finden auf Fragen wie: Wie gehe ich damit um, wenn ich befürchte, dass ich für die Patienten nicht mehr dasselbe Engagement aufbringe? Was kann ich tun, wenn ich zuhause erschöpft bin und die Partnerschaft darunter leidet? Weiter gibt es Seelsorger im Haus und ein Sorgentelefon. 
 
Bundesrat Alain Berset muss derzeit Kritik einstecken, weil er die Massnahmen nicht so schnell lockert, wie sich das viele wünschen. Seine Botschaft: Noch ist unklar, wie Omikron sich in den nächsten Wochen verhalten wird. Nach zwei Jahren Pandemie herrscht also noch immer dieselbe Unsicherheit wie zu Beginn.
Nicht ganz. Das Wissen über die Krankheit ist gewachsen. Wir wissen aber immer noch nicht, wie man sie heilen kann. Wir kennen Covid seit zwei Jahren. In dieser Zeit wurde viel geforscht, zahlreiche Studien sind erschienen. Die Medizin hat Erkenntnisse darüber gewonnen, wie man die Betroffenen beatmen muss, zu welchem Zeitpunkt sie bestimmte Medikamente benötigen und welche Warnzeichen man beachten soll. Man hat auch Routine im Umgang mit den Patienten entwickelt. 
 
Inwiefern?
Beatmete Patienten auf den Bauch zu drehen, um die Lunge zu entlasten, war früher ein grosser Akt, der mit viel Stress für das Team verbunden war. Heute geht das beinahe im Handumdrehen ohne viel Aufhebens. Ein anderes Beispiel ist die Hochfluss-Sauerstofftherapie, die wir zu Beginn der Pandemie auf den Abteilungen durchgeführt hatten, weil Beatmungsmaschinen Mangelware waren. Damals hiess es, das sei gefährlich. In der Zwischenzeit ist es genau anders. Heute wissen wir, dass wir diese Therapie als Erstes machen müssen. So ist Medizin: Was heute gut ist, kann morgen schlecht sein oder umgekehrt. Und was wir heute nicht wissen, wissen wir vielleicht in einigen Monaten. 
Stichwörter: Spitalzentrum, Corona, Triage

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