Sie sind hier

Theater

Zum Abschied gibt's Kugelfisch

«Hiver à Sokcho» von Elisa Shua Dusapin hat im Nebia Premiere gefeiert. Comic-Zeichner Pitch Comment entwirft das Bühnenbild live und gibt unterdrücktem Gefühl ein poppiges Gewand.

Clara Gauthey
Tinte tröpfelt aus dem von zarter Hand zerteilten Tintenfisch – Tinte tröpfelt auch aus der Feder des Comic-Zeichners Yan aus Frankreich aufs Papier. Schon in diesem Bild dürften die sanfte Gewalt und die Gegensätze enthalten sein, welche in Elisa Shua Dusapins Roman «Winter in Sokcho» angelegt sind, der die Begegnung eines Europäers mit einer Asiatin schildert. 
Yan sucht in der südkoreanischen, winterlichen Küstenstadt Sokcho Ruhe und künstlerische Inspiration. In der Pension «Zum Alten Park», kurz vor der politisch wie emotional beladenen nordkoreanischen Grenze, steigt der Künstler ab und trifft auf die dort arbeitende Franko-Koreanerin, die ebenfalls etwas sucht – wenn auch eher etwas jenseits der Ruhe. Es fehlt weniger an Vokabular denn an Mut – und in den Auslassungen wie auch in den Annäherungen schwingen unentwegt schmerzhafte, emotionale und kulturelle Missverständnisse mit.
Das Theaterstück «Hiver à Sokcho» unter der Regie des jurassischen Schauspielers Frank Sermelet feiert am Donnerstagabend im Nebia vor vollen Rängen Premiere. Das Stück ist auf Tour durch diverse Theater der Romandie, nachdem die 29-jährige Autorin der Romanvorlage, Elisa Shua Dusapin, den National Book Award erhalten hatte, neben dem Pulitzer die wichtigste amerikanische Auszeichnung für Literatur. Und Sermets Kniff, den Comiczeichner Pitch Comment das Bühnenbild live entwerfen zu lassen, ist genial.
 
Mal-Erotik: Die in Tusche verwickelte weisse Bluse 
Ausprobiert hat er das im Kleinen bereits 2018 im Midi-Théâtre des Nebia, einem etwa halbstündigen Mittagsformat. Aber auch auf der grossen Bühne funktioniert das Konzept, jetzt also in der 80-minütigen Langversion und mit deutschen Untertiteln. Die zarte, stellenweise aber auch sehr fleischliche und ironische Prosa Dusapins, inklusive einer Masturbationsszene der weiblichen Protagonistin, wird auf der Bühne in vergleichsweise züchtige Mal-Erotik übersetzt.
Und so verzehrt und räkelt sich denn Schauspielerin Isabelle Caillat (die auch noch ihre eigene Tante und Mutter grandios überzeichnet und gehässig spielt) vor der leuchtenden Leinwand, auf welche Pitch Comment, am Bühnenrand sitzend, seine weibliche Comicfigur mit ein paar Strichen entwirft. Er ist, in dieselben Stiefel und Anziehsachen gekleidet, eine Art Doppelgänger des Schauspielers Sermet, der den männlichen Protagonisten Yan gleich selbst gibt. Mehr Budget-Effizienz in einem Stück dürfte schwierig werden.
Die schwarzen Striche wickeln die weisse Bluse der realen Hauptfigur auf der Bühne geradezu wollüstig ein, die Berührungen, nach denen sie sich sehnt, stecken im Pinselstrich. Aber eben nur dort. Und die gemeinsame Geschichte ist am Ende vielleicht nur ein Comic plus Kopfkino einer einsamen jungen Frau.
Nachts sind Yan und sie nur durch eine dünne Wand getrennt, ansonsten gibt es ein paar tastende Blicke durch dünne Stoffe, eine zufällige Berührung beim Autofahren. Viel passiert nicht, was man einer handgreiflichen Liebesszene zurechnen könnte. Einmal fasst Yann sie an der Hüfte, mit einem Ruck zieht er sie von dort weg, wo gerade ein Eiszapfen herunterbricht. Hält sie, als die Gefahr gebannt ist, einen Moment zu lange fest. Oder wärmt ihre viel zu kalten Hände in seinen.
 
Essen als kümmerlicher Ersatz für Fleischeslust
Und dann ist da immerzu das Essen, dieser kümmerliche Ersatz der Fleischeslust. Wie viel doch darin anderes liegt als Nahrungsaufnahme! Da ist einerseits der sinnfällige, kulturelle Unterschied der beiden. Eine arrogante Selbstverständlichkeit des Europäers und die in Ansprüchen und Verpflichtungen eingeklemmte Koreanerin. Der schnell verfügbare Bagel aus dem Supermarkt gegen das als zu scharf und ungewohnt empfundene asiatische Essen, die Algensuppe oder der Tintenfischsnack. Der Gast verweigert die für seine Sinne zu exotische Kost und fordert damit mehr und mehr die Geduld der Köchin heraus.
 
Mehr Wut und Blut als im Roman «Winter in Sokcho»
Die eher zurückhaltende, fast ätherische Protagonistin des Romans geht in der Theateradaption allerdings stärker aus sich heraus. Das kulminiert in der recht blutigen Szene, in welcher sie den Fisch zerhackt, als wäre er der Mann, den sie nicht haben kann. Und den Fisch nach einer unappetitlichen Sezierung der Organe und Gedärme, begleitet von dunklen Bässen, dem nichts ahnenden Mann als Kugelfisch serviert mit der unverhandelbaren Anweisung, einer Morddrohung gleich: «Iss!» 
Der Winter hält beide fest imGriff. Undenkbar, dass sie gemeinsam den Frühling erleben werden, mit Kirschblüten und Bambussen. Vielleicht ist eine Verbindung nur denkbar an einem Ort, der keiner ist. Einem dieser Orte, «die Form annehmen, wenn man an sie denkt und sich gleich wieder auflösen (...)».
Er ist im Roman enthalten, dieser Wechsel von Comicfigur und lebender Frau. Die Frau imLeben wird unter der Hand Yans zur geliebten Figur des Zeichners. «Das Kinn wartete auf seinen Mund.» Und dann wird sie wieder verwischt und übermalt. In Tusche ertränkt.
 
Info: Elisa Shua Dusapin. Winter in Sokcho. Übersetzt von Andreas Jandl. Verlag Blumenbar. 144 S., 27.90 Franken; das Theaterstück unter der Regie Frank Semelets tourt aktuell durch Theater der Romandie.

Nachrichten zu Kultur »