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Literatur

Wenn die Libelle Verheissung bringt

Die Gedichte des Tessiners Fabio Pusterla überzeugen nicht nur mit ihrer Sprachkunst– sie bewegen auch mit ihrer Tiefe. Dem dunklen Pessimismus ist eine leise Hoffnung eingeschrieben.

Fabio 
Pusterla lässt in seinen 
Gedichten die Türe der Hoffnung einen Spalt weit offen. Bild: Keystone

Charles Linsmayer

Obwohl es stärker als Deutsch und Französisch vom unaufhaltsamen Vormarsch des Englischen betroffen ist und in den Schulen ausserhalb des Tessins kaum mehr eine Rolle spielt, ist das Italienische, die drittgrösste Landessprache, von vielen unbemerkt, zu einem Echoraum der Lyrik geworden, mit dem die kargen Täler links und rechts zwischen Airolo und Chiasso zu einem Ort der Weltliteratur avancieren. Wer das nicht glaubt, nehme den zweisprachigen Band «In der vorläufigen Ruhe des Flugs» /«Nella quiete provvisoria del volo» zur Hand, mit dem der 1957 in Mendrisio geborene Fabio Pusterla in der Nachfolge von Giorgio und Giovanni Orelli und in enger Verwandtschaft zu Philippe Jaccottet, den er ins Italienische übersetzt hat, zu seiner Grösse findet.

 

Der Dichter und der Zöllner

«Grenzposten»/«Posto die frontiera» heisst eines der ersten Gedichte des Bandes, der die beiden Sammlungen «Argéman» (2014) und «Cenere o Terra» (2018) zusammenführt und in Christoph Ferber einen kongenialen deutschen Übersetzer gefunden hat. Es ist eines jener Gedichte, die das Genre Lyrik auch Leserinnen und Lesern lieb machen können, die beim Anblick eines Gedichtbuches verständnislos den Kopf schütteln – verbindet es doch Erzählung und Lyrik mit einer Kunstfertigkeit, die nichts Stilisiert-Literarisches an sich hat.

In Norditalien wohnhaft, pendelt Fabio Pusterla nach Lugano, wo er am Gymnasium unterrichtet. Und am Zoll fragt ihn gelegentlich ein Beamter, «ob er ein vor Jahren bekannter Hundertmeterläufer» sei, und es ihm leid tut, ihn enttäuschen zu müssen, da er nur «ein Lehrer, aus einem Randstamm, aus der Provinz Como» ist «und keine Beziehung zur Athletik hat». Bis einmal einer fragt, «ob er nicht der Schriftsteller Giuseppe Pontiggia sei, / derjenige, der ‹Zweimal geboren› geschrieben hat.» Und Pusterla auch ihn enttäuschen muss, denn Pontiggia kennt er zwar, Romane aber schreibt er keine. Immerhin ist er nun aber doch gerührt und überlegt – um es dann doch bleiben zu lassen –, ob er dem Zöllner seine Poetik offenbaren will: «Nun müsste ich ihm sagen, dass ich leider / einer bin, der hauptsächlich Verse / schreibt über Dinge, / denen ich auf dem Weg begegne, / über vernehmbare Stimmen, von denen ich / niemals weiss, wohin sie mich führen.»

 

Fülle und Tragik der Welt

Lässt man die Dinge, denen Pusterla «auf dem Weg begegnet», Revue passieren, öffnet einem dieser Gedichtband nicht nur den Blick auf zufällige Einzelheiten, sondern auf eine ganze dichterische Welt. Da blickt man etwa auf eine Weide am Ufer, «auf den Seespiegel geglitten mit der Erde / wie der Hals eines ruhenden / Schwans… / hängend und noch nicht versunken, sanfteste grüne/ Biegung über weiterem, tieferem Grün / und ein zärtlicher Windhauch bewegt / ihre Blätter, und ein fast schmachtender Feigenduft / reicht bis hierher, wo ein Baum die Natur eines Baumes / verliert, doch nicht aufhört und nicht weiss,/ was er wird, noch wo er es wird.» («Verlorene Weide»).

Idyllisierende Naturdichtung ist allerdings Pusterlas Sache nicht, denn die Stockente im Zyklus «Schattenwoche» liegt, als schliefe sie, von einem Auto überfahren tot auf der Strasse, die «grauen, flaumigen, seltsam zierlich anmutenden Federn» einer Amsel verweisen auf den Tod eines Vogels in den Klauen eines vom Himmel stürzenden Milans («Federn»), während der See in den Bergen nicht nur von «flossenbewehrten Touristen und mehr oder weniger dreisten Badenden» bevölkert ist, sondern auch den Freund in Erinnerung ruft, der darin den Tod gesucht hat («Sommer im Schwebezustand»).

 

Eine Spur von Hoffnung

Ein ebenso geheimnisvolles wie flüchtig-schwereloses Symbol für ein der dunkel drohenden Zivilisation gegenüberstehendes Etwas, eine Spur von Hoffnung, von Trost, ein Anzeichen, dass die Poesie dem Realen überlegen sein könnte, schafft Pusterla in der Libelle, die einem ganzen Zyklus den Titel gibt.

Mitten unter den «Fahrrädern, Jogging-Anzügen, yuk yuk, mumble, mumble» ist sie auf einmal über dem Wasser des Sees. «Kein Schimmer, kein Summton, der sie ankündigte, /mit ihrem ruckartigen Flug, surplace, / setzt sie sich auf den Rand der Entmutigung, /des Aufgeben-Wollens, auf realen / und metaphorischen Schlamm, / die leichte, smaragdgrüne Libelle, / in der Luft schwebend, / fast reglos im unergründlichen Flattern / ihrer vier hauchdünnen, leuchtenden, mit feinsten / Intarsien versehenen Flügel…. Ankündigung von etwas, Botin / der Himmel und der Sümpfe, /hier und dort, oben und unten, vorne / immer vorne, / oder um uns herum, / das Offensichtliche zu verneinen und eine andere / heimliche Geometrie zu eröffnen.»

 

Ruhe und Bewegung in einem

Schön, dass der Band auch seinen Titel vom Motiv der Libelle ableitet. «In der vorläufigen / Ruhe des Flugs» steht nämlich am Anfang des Gedichts «Ein letztes Ding, vamos a ver», das mit seinen spanischen Einsprengseln auf den Amerikaner Cormac McCarthy verweist. Die (scheinbare) Ruhe des Flugs der Libelle steht da einem anderen Bild gegenüber: «dem pulsierenden Smaragd, der das letzte armselige Tageslicht reflektiert». «Brich das Brot, teil es», wird in vielsagendem biblischem Anklang in den Raum gesprochen, worauf es von der Libelle heisst: «Bevor sie in die anbrechende Nacht/ eintaucht und in ihr weiterfliegt, / wie wir, die wir ihr / auf Distanz folgen im Zweifel, / in der unsicheren Musik, / die uns vielleicht ähnlich macht, / sogar gleich macht, fast gleich / und verschieden. Vamos / vamos a ver.»

«Wir werden sehen» heisst das spanische Zitat auf Deutsch, und es lässt bei allem Dunkel des Weges in die Nacht jene Hoffnung offen, die bei allem dunklen Pessimismus Pusterlas Dichtung als ganzer leise eingeschrieben ist.

Info: Fabio Pusterla, «In der vorläufigen Ruhe des Flugs» / «Nella quiete provvisoria del volo», Gedichte 2010–2020, Italienisch und Deutsch, ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber, Nachwort Georges Güntert, Limmat Verlag, Zürich, 2021, Fr. 38.-.

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