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Massnahmen

Nun muss sich jeder selber schützen

Der Bundesrat hebt auf einen Schlag fast alle Corona-Schutzmassnahmen auf und appelliert an die Eigenverantwortung 
der Menschen. Die Erleichterung im Land ist gross – doch Interessenvertreter der Kranken und Alten zeigen sich beunruhigt.

Ende März sollen auch die letzten Massnahmen auf Bundesebene fallen: Gesundheitsminister Alain Berset (links) und Bundespräsident 
Ignazio Cassis gestern in Bern. Bild: Keystone

Luca De Carli, Markus Brotschi und Fabian Renz

Alain Berset lutschte während der Medienkonferenz ganz ungezwungen Fisherman’s-Friends-Pastillen. Der SP-Gesundheitsminister ist sich Auftritte dieser Art längst gewohnt; seit Beginn der Pandemie absolvierte er sie phasenweise im Wochenrhythmus. Der gestrige freilich: Er könnte einer seiner letzten in diesem Modus gewesen sein.

Aussenminister Ignazio Cassis wiederum erscheint erst seit Anfang Jahr, seit Beginn seines Bundespräsidiums, an Corona-Medienkonferenzen. Für ihn sind sie noch immer etwas Besonderes – und entsprechend legte der Freisinnige gestern viel Pathos in sein Statement. «Am 16. März 2020 hat der Bundesrat die ausserordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz verhängt. Heute, am 16. Februar 2022, 
exakt 23 Monate später, hebt der Bundesrat die Mehrheit der Schutzmassnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wieder auf. Dieser heutige Beschluss, meine Damen und Herren, ist ein entscheidender Schritt!»

In der Tat: Die Corona-Massnahmen sind ab heute fast komplett gestrichen. Nur im öffentlichen Verkehr und in Gesundheitseinrichtungen bleibt die Maske bis maximal Ende März obligatorisch. Positiv Getestete müssen sich zudem weiterhin isolieren. Ende März sollen dann die letzten Massnahmen auf Bundesebene fallen. Auf dieses Datum hin will der Bundesrat auch die «besondere Lage» – die seit Juni 2020 anstelle der vorherigen «ausserordentlichen Lage» gilt – wieder aufheben. Dann wird auch die wissenschaftliche Taskforce, die mit ihren Prognosen in den letzten zwei Jahren oft polarisierte, ihre Tätigkeit einstellen.

Parteien und Wirtschaftsverbände begrüssen die schnelle Normalisierung praktisch unisono. Ob sie damit die Stimmung der Schweizerinnen und Schweizer treffen, bleibt offen. Vor wenigen Tagen sprach sich eine Mehrheit in einer repräsentativen Umfrage von Tamedia und «20 Minuten» für einen langsameren Abbau der Corona-Massnahmen aus. Insbesondere den breiten Einsatz der Masken hätten viele noch etwas länger beibehalten. Cassis und Berset stellten demgegenüber klar, dass nun die Zeit der «Eigenverantwortung» angebrochen sei.

Das müssen diejenigen jetzt wissen, die sich trotzdem noch vor dem Virus schützen wollen:

 

Ich behalte die Maske im Kino oder im Büro an. Aber schützt sie mich überhaupt noch, wenn rundherum Menschen ohne Maske sitzen?

Eine Untersuchung des deutschen Max-Planck-Instituts vom Dezember kommt zum Schluss, dass für einen wirkungsvollen Infektionsschutz vor allem die infizierte Person eine Maske tragen sollte. Da dies jedoch mit Aufhebung der Maskenpflicht nicht mehr gewährleistet ist, bleibt vorsichtigen Menschen nur noch die Frage, welche Maske sie dennoch vor Ansteckung schützt. Gemäss Max-Planck-Institut bieten nur FFP2-Masken einen relativ hohen Schutz. Hygienemasken schützen in solchen Situationen kaum. Die Untersuchung wurde noch mit der bis Dezember dominanten Delta-Variante gemacht. Wie weit sich die Erkenntnisse auch auf die noch ansteckendere Omikron-Variante übertragen lassen, bleibt offen.

Eine Maske freiwilliganzuziehen, braucht Mut und Überwindung. Wer wird es tun?

Nach der Aufhebung der Maskenpflicht geht die Basler Bioethikerin Bettina Zimmermann davon aus, dass nur noch eine Minderheit freiwillig die Maske tragen wird. Viele würden die Aufhebung als Befreiung empfinden. Auch wenn sich die meisten ans Tragen von Masken gewöhnt hätten, empfänden viele diese Gesichtsbedeckung als unserer Kultur fremd. «Viele sehen in der Maske ein Symbol dafür, dass ihnen ein bestimmtes Verhalten aufgezwungen wird.» Wer sich auch künftig mit der Maske vor Ansteckung schützen wolle, werde wohl weiterhin eine tragen. Dieses Verhalten sei gesellschaftlich akzeptiert, denn die Maske beeinträchtige andere Menschen nicht. Wer aber künftig im Theater oder im Laden eine Maske trage, werde sich möglicherweise beobachtet fühlen oder unter Erklärungsdruck stehen.

 

Habe ich das Recht, überalleine Maske zu tragen? Selbst wenn mein Chef das nicht will?

Das ist unklar. Der Rechtsexperte des Bundesamtes für Gesundheit konnte auf die entsprechende Frage keine Antwort geben. Das sei eine Sache des privaten Arbeitsrechts.

 

Der Bundesrat sagt, dass jeder wieder für seinen eigenen Schutz verantwortlich sei. Was bedeutet das für besonders gefährdete Menschen?

Die Haltung der Interessenvertreter der Kranken und Alten im Land ist klar: Sowohl Pro Senectute als auch die Krebsliga hätten es begrüsst, wenn die Maskenpflicht nicht nur in ÖV und Gesundheitseinrichtungen weiterhin gelten würde. Die Krebsliga nennt zusätzlich alle Läden, Pro Senectute die Läden des täglichen Bedarfs. «Das wäre eine kleine, wichtige Geste der Gesellschaft an die gefährdeten Personen gewesen», sagt Sprecher Peter Burri Follath. Für nicht wenige könnten die Lockerungen nun bedeuten, dass sie sich in einer ähnlichen Situation wie zu Beginn der Pandemie wiederfinden, als ihnen empfohlen wurde, nur für das Nötigste aus dem Haus und zu Randzeiten einkaufen zu gehen. Stefanie de Borba, Sprecherin der Krebsliga, sagt, die Aufhebung der Massnahme habe für einen Teil der Krebspatienten Folgen. Sie müssten sich nun stärker isolieren. Der Verband der Detailhändler verkündete gestern, man empfehle dem Ladenpersonal, im Kundenbereich weiterhin eine Maske zu tragen.

In Dänemark kam es nach 
dem Ende der Corona-Massnahmen zu einem deutlichenWiederanstieg der Fallzahlen. Was heisst das für die Schweiz?

Auf den ersten Blick war das Ende der Corona-Massnahmen Anfang Februar nicht gut für Dänemark. Anders als in der Schweiz sind die Fallzahlen weiter angestiegen, und das bei einer neu ebenfalls sehr hohen Dunkelziffer. Hinzu kommt, dass die Zahl der registrierten Todesfälle – anders als in der Schweiz – deutlich zugenommen hat. In Dänemark selber sehen die Behörden die Entwicklung jedoch dank der hohen Impfquote eher gelassen: Dem Gesundheitswesen drohe keine Überlastung, die gestiegene Zahl der Todesfälle habe auch mit der Zählweise zu tun. In vielen Fällen sei nicht Corona die Todesursache. Für die Schweiz schreibt die wissenschaftliche Taskforce in ihrem neuesten Bericht, dass momentan «die Immunität in der Bevölkerung durch Impfungen und Infektionen hoch ist». Zu schweren Krankheitsverläufen werde es aber weiterhin kommen. Zudem wisse man weiterhin wenig über die Risiken von Long Covid.

 

Die Corona-Massnahmen haben uns auch vor der Grippe geschützt. Macht eine Rückkehr der Masken im nächsten Winter Sinn – egal was mit Covid passiert?

Laut Hansjakob Furrer, Direktor der Universitätsklinik für Infektiologie des Berner Inselspitals, kursieren zwar Grippeviren in der Schweiz, jedoch viel weniger als in normalen Jahren. Furrer erklärt das mit den Corona-Massnahmen, die neben den Covid-Viren auch Grippe- und Erkältungsviren eindämmten. Eine «Grippewelle» sei zwar auch im März möglich, so Furrer weiter. Das Aufheben der Massnahmen könne also zu einer Zunahme der Grippeerkrankungen führen. Er sei jedoch zuversichtlich, dass diese nicht massiv ausfalle. Selbstverständlich müsse man die epidemiologische Situation gut überwachen.

Was den nächsten Winter betrifft, schreibt die Taskforce, dass dann womöglich eine neue Coronawelle mit Wellen anderer Krankheitserreger zusammenfalle. Das könnte eine «grosse Krankheitslast für die Menschen und eine starke Belastung für die Spitäler» zur Folge haben. In so einer Situation könne das Tragen von Masken und die Vermeidung von grossen Menschenansammlungen die Höhe einer Welle reduzieren.

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