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Literatur

Tell: Pantoffelheld mit Missbrauchstrauma

Der in Island lebende Bündner Joachim B. Schmidt hat versucht, aus dem Tell-Mythos einen «Blockbuster in Buchform» zu machen. Er scheitert gründlich.

Joachim B. Schmidt hat aus «einem Halbgott einen machen wollen, den man kennt, wie seinen Nachbarn». Bild: zvg/Eva Schram/©Diogenes Verlag

Charles Linsmayer

Helden sind auch nicht mehr, was sie mal waren: Sie bergen Unfallopfer, pflegen Coronapatienten, gewinnen Olympiamedaillen, sodass selbst Nationalhelden nicht mehr mit ihnen konkurrenzieren können. Tell, der schweizerische, wurde schon vor Jahrzehnten von der Geschichtswissenschaft für historisch inexistent erklärt, und als Max Frisch, angeregt durch einen Al-Fatah-Terroristen, der sich für seinen Anschlag auf den Flughafen Zürich ihn berief, 1971 seinen «Wilhelm Tell für die Schule» schrieb, erzählte er die Geschichte aus der Optik des Landvogts Gessler, einem gutmütigen, dicklichen, kleinen Ritter, der mit den fremdenfeindlichen Berglern seine liebe Mühe hatte.

 

Auf isländische Art erzählt

Nun hat sich auch der 1981 in Thusis geborene Joachim B. Schmidt, der nach einer Lehre als Hochbauzeichner nach Island auswanderte und dort auch die Staatsbürgerschaft annahm, des durch Schiller in die Weltliteratur eingegangenen Urner Tyrannenmörders angenommen.

Hat er seinen letzten Roman – den Krimi «Kalmann» von 2020 – in seiner Wahlheimat Island spielen lassen, so greift er mit «Tell» nun in isländischer Manier auf ein Schweizer Thema zu. So hat es ihm, wie er in einer Widmung andeutet, die «Die Sturlungen»-Trilogie von Einar Kárason angetan, in der die mittelalterlichen Versgeschichten von Snorri Sturluson von den beteiligten Figuren selbst neu erzählt werden.

Und genau so lässt Schmidt nun die Geschichte Wilhelm Tells in Anlehnung an Schiller, aber mit vielerlei Zugaben und Freiheiten neu von insgesamt 18 in Ich-Form erzählenden Figuren vor uns ausbreiten: Tell selbst, den er mitsamt seiner Familie von Bürglen ins Isental verpflanzt hat, seine Frau Hedwig, seine Mutter Aloisa, die Schwiegermutter Marie, die Söhne Walter und Willi sowie ganz am Schluss auch noch die Tochter Lotta. Dazu kommen Gessler, sein brutaler erster Offizier und «Vollstrecker» Harras, seine im fernen Österreich lebende Frau Teresa sowie der Pfarrer Taufer und jede Menge österreichische Soldaten und Urner Bauern.

 

Heimwehkranker Gessler

Gessler ist wie bei Frisch nur ungern bei den hinterwäldlerischen Bauern und sehnt sich zu seiner Frau zurück, mit der er sentimentale Briefe wechselt. Mit Tell gerät er durch einen reinen Zufall in Konflikt und ordnet, als dieser den Bückling vor seinem Hut verweigert, das Apfelschuss-Spiel, das seine Soldaten in ihrer Freizeit immer wieder spielen, nur an, um seinen Stellvertreter daran zu hindern, Tell in seiner üblichen brutalen Manier den Garaus zu machen. Auch als er schliesslich in der Hohlen Gasse von Tell hinterrücks niedergeschossen wird, ist es wiederum Harras, der mit dem Schützen Tell – der übrigens eine österreichische Armbrust benützt, nachdem Sohn Walter die seine zertrümmert hat – in ein grausiges Ringen und Schlachten nach Hollywood-Manier gerät, bis ihn nicht Wilhelm Tell, sondern jene Frau, deren Flehen der Vogt in der Hohlen Gasse mit Hohn entgegengetreten war, zur Strecke bringt, indem sie ihm mit Gesslers Schwert den Kopf abschlägt.

 

Starke Frauen, labiler Tell

Auch sonst haben die Frauen in der Erzählung die Hosen an, wird Tell doch einmal von der mit einer Pfanne bewaffneten Hedwig vor der Attacke eines Bären gerettet, während kurz danach die Schwiegermutter Marie die österreichischen Söldner in die Flucht schlägt, die ihn im Auftrag von Harras liquidieren sollen. Nein, dieser Tell ist nicht der mutig-selbstbewusste Held, wie Schiller ihn zur Freude der Eidgenossen gezeichnet hat. Schmidt schildert ihn als verschlossenen, unzugänglichen Eigenbrödler, Dickschädel und Pantoffelhelden, der ganz offensichtlich ein unbewältigtes Trauma mit sich herumschleppt.

Nicht dass der Autor ihn etwa im Zeichen von #MeToo als von den Frauen gerade noch zu akzeptierenden Softie zeichnen will, nein, er verschafft ihm durch etwas ganz anderes, in den letzten Jahren aus den Medien nicht mehr Wegzudenkendes unmittelbar nachvollziehbare Aktualität. Sein Tell ist nämlich als Junge genauso wie sein Schulfreund Franz Taufer, der heutige Dorfpfarrer, vom früheren Pfarrer Loser missbraucht worden und nie mehr wirklich davon losgekommen. Und als er nun schwer verletzt und nur dank dem mutigen Eingreifen einer Frau lebend von seinem Tyrannenmord in Küsnacht ins Urnerland zurückkehrt, findet er Aufnahme bei Franz Taufer und dessen Haushälterin und erfährt, bevor er weiterzieht und in die Berge hinauf flieht, wo er für immer verschollen bleibt, dass auch der Missbrauch schliesslich doch noch gerächt worden ist. Taufer hat als junger Vikar seinen bereits halb toten Vorgänger «von seinem Dasein erlöst», indem er ihn – der morbide Zynismus könnte nicht grösser sein – an einer in den Hals gestossenen Trockenwurst ersticken liess, «die fast so dick und so lang war wie ein steifes Glied».

 

«Sie sind alle Tell»

Wie aber schafft es Schmidt, der in einem Interview erklärte, er habe Tell «vermenschlichen» und «aus einem Halbgott einen machen wollen, den man kennt, wie seinen Nachbarn», dennoch etwas Sagenhaftes, Erinnernswertes an seiner Figur zu lassen?

Zum einen, indem er ihn zu einem typischen Repräsentanten von unverwechselbaren schweizerischen Eigenschaften macht. Was er ausgerechnet Gessler in den Mund legt, als dieser, nachdem er in dem Mann, der ihn hinterrücks erschossen hat, Tell erkennt, deklariert: «Er ist also der Heckenschütze. Ausgerechnet. Aber es hätte jeder beliebige Bauer sein können, jung oder alt, Mann oder Frau, es wäre ganz egal und hätte mich nicht überrascht, denn niemand will uns hier, alle wollen in Ruhe gelassen werden. Sie leben nach ihren eigenen Gesetzen und verteidigen sich in der Not eben selbst. Sie alle sind Tell.»

Zum andern aber, indem er Tell in den Bergen, bei den Eishexen, den Tod suchen und da zu einem Teil des Gebirges werden lässt. «Wilhelm Tell ist in den Berg gegangen, und seither wacht er da oben über uns», erklärt seine Tochter Lotta als alte Frau im letzten Kapitel des Buches einem Chronisten, der sich auf die Suche nach der Tellsage gemacht hat.

Ein neuer Tell nach isländischer Art? Ein aktualisierter Nationalheld, der keiner war?

Am Ende ist es vielleicht doch besser, sich an Lebensrettern und Olympiasiegern zu orientieren als an einer solchen Figur, die nicht mehr ist, was sie war, aber auch nicht zu etwas Neuem zu werden vermag, was mehr als den Stoff für eine missglückte Parodie hergibt.

Info: Joachim B. Schmidt, «Tell», Diogenes-Verlag, Zürich 2022, 284 Seiten, Fr. 32.90.

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