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Alt und Jung

Schwarze Wolken über dem Wissenschafts-Standort Schweiz

Im Dezember 1992 hat das Schweizer Stimmvolk den EU-Beitritt abgelehnt. Seither, also 30 Jahre lang, wurde nach Lösungen für eine Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU gesucht. Mühsam entstanden allmählich bilaterale Verträge. Aber beim letzten Vertragspaket konnten der Bundesrat und die EU-Kommission wegen juristischer Probleme keine Einigung finden.

Françoise Verrey Bass

Am 26. Mai 2021 wurde uns Schweizerinnen und Schweizern mitgeteilt, dass die Verhandlungen für ein Rahmenabkommen vom Bundesrat abgebrochen worden seien. Dieser Abbruch hat viele schockiert. Man ahnte schlechte Perspektiven, aber dass die Schranken sich so rasch und heftig schliessen würden, war unerwartet. Die Wirtschaft hat bald realisiert, dass dies für sie unangenehm werde. Ausländische grössere Unternehmen haben begonnen, ihre Niederlassungen von hier ins Ausland zu verlegen. Wie wird es unter den aktuellen Umständen für die Schweizer Unternehmen weitergehen?

Als Grossmutter zweier Studenten bin ich sehr enttäuscht: Nach zwei Jahren Pandemie und allem, was sie für die Jugend an Einschränkungen mitbrachte, fallen nun ihre Projekte eines Austauschjahres an einer europäischen Universität im Rahmen des Programms Horizon Europe ins Wasser.

Als Medizinerin weiss ich noch gut, wie als Studentin meine Pläne für ein Studienjahr im Ausland an administrativen Hürden scheiterten. Gleiches soll nun auch mit der jungen Generation passieren! Man hört bereits Reaktionen der Jugend: «Ich werde einen Weg finden, werde dorthin gehen, wo es für mich passt und werde nicht mehr zurückkommen.» Somit werden wir gute Köpfe verlieren. Der heute noch ausgezeichnete Ruf des Wissensstandorts Schweiz wird in solchem Falle schleichend verloren gehen ...

Doch es geht ja nicht nur um die Studenten. Die Situation von Madhav Thakur, seit 2020 Assistenzprofessor in Abteilung für Terrestrische Ökologie an der Universität Bern, hat mich erschüttert. Er hat vor Abbruch der Beziehungen ein Projekt ins Programm Horizon Europe eingereicht, hat einen grossen Preis erhalten, einen ERC-Starting-Grant, mit hohem Preisgeld, um seine Studien ohne Geldsorgen fortsetzen zu können. Er hat sich entschieden, in Bern zu bleiben, um hier weiter zu forschen (mit den viel kleineren Möglichkeiten des Nationalfonds). Er musste «mit einem komischen Gefühl» wie es heisst, den Preis ablehnen und das Geld ebenfalls.

Er ist nicht der Einzige, der diese grosse Ehre und das damit verbundene Preisgeld ablehnen musste. An der Uni Bern erlitten weitere Projektleiter das Gleiche und mussten die Projektleitung an europäische Universitäten abtreten. Beim Programm Horizon Europe teilzunehmen, bedeutet nicht nur, an ausserordentlichen Projekten in Spitzenpositionen mitarbeiten zu können. Es bedeutet auch, mit der ganzen Welt verbunden vernetzt zu sein, mit Laboratorien, die an ähnlichen Projekten arbeiten. Es bedeutet, sich austauschen zu können, sich gegenseitig zu inspirieren, zu helfen. Dank dieser Vernetzung konnten ja auch die Impfstoffe gegen die Pandemie so rasch hergestellt werden, und die Schweiz war ganz wesentlich an der Produktion des Impfstoffs Moderna mitbeteiligt, was ohne wissenschaftliches Zusammenarbeiten nicht möglich gewesen wäre.

Die Universitäten haben bereits begonnen, ihre Kontakte mit den Unis in Europa und ausserhalb zu aktivieren, gegenseitige Verträge abzuschliessen. Der Studentenaustausch soll möglich sein, auch wenn die Mittel von «Horizon Europe» fehlen. Aber die Leiter wissenschaftlicher Programme, die weltbekannten Wissenschaftlerinnen an unseren Universitäten, an der ETH oder der EPFL, wie lange werden sie sich diese Rückstufung gefallen lassen? Nur weil wir Schweizer nicht die gleichen Bedingungen wie die anderen Länder in der EU akzeptieren können? Der Sonderfall Schweiz ist in einer globalisierten Welt so nicht mehr möglich!

Wir hoffen und wünschen, dass unsere Parlamentarier über die Mauern des Bundeshauses und die engen Grenzen der Schweiz hinaus die Zusammenarbeit mit den uns gut gesinnten Parlamentarierinnen anderer Länder suchen und rasch und inspiriert an Lösungen arbeiten, sodass für beide Seiten gut kompatible Verträge vor allem auch für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler abgeschlossen werden können, bei denen wir unsere Identität nicht verlieren.

Deutschland und Österreich haben sich anerboten, die Schweiz bei den Gesprächen mit Brüssel zu unterstützen. Nehmen wir doch dieses Angebot an. Es muss unseren Parlamentariern ganz klar werden, dass der Verlust der Attraktivität der Schweiz als Forschungsstandort ebenfalls schädlich für unsere Wirtschaft ist. Die Zukunft liegt in einer gesunden und widerstandsfreien Zusammenarbeit, wo Partikularinteressen keinen Platz haben. Denn Forschung bedeutet Inspiration, somit auch Innovation und Zukunft. Eine Wiederaufnahme der Schweiz im Programm Horizon Europe wäre eindeutig die beste Option.

Info: Françoise Verrey Bass ist 83 Jahre alt. Sie hat vier Kinder und acht Enkelkinder. Bis 2012 führte die studierte Neurologin in Biel eine Praxis. Sie ist bilingue und engagiert sich bei Pro Senectute für Altersfragen. 
kontext@bielertagblatt.ch

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