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Biel

Wenn jemand hinter der Türe schreit

Die Wanderausstellung «Stärker als Gewalt» ist in Biel zu Gast. Beim Präventionsprojekt gegen häusliche Gewalt betreten die Besucherinnen in Begleitung von Fachpersonen eine Wohnung, in der es unter der Oberfläche brodelt.

Copyright: Peter Samuel Jaggi / Bieler Tagblatt

Mengia Spahr

Auf dem Lampenschirm ist ein Baby-Bär. In sich zusammengesunken sitzt er da, eine Träne kullert. Der beleuchtete Schirm dreht sich und zeigt, wie der Bär aufwächst. Auf dem letzten Bild ist er ein grosses, gefährliches Tier. Die Lampe steht neben dem Kinderbett in der Wanderausstellung «Stärker als Gewalt». Sie besteht aus den Zimmern einer Wohnung. In jedem Raum erzählen Gegenstände, Stimmen und Bilder von häuslicher Gewalt. Die Ausstellung soll Jugendliche und junge Erwachsene für das Thema sensibilisieren und Hilfsangebote aufzeigen.

Gemäss Bundesamt für Statistik hat die Polizei 2020 im häuslichen Bereich 20 123 Straftaten registriert. In der Ausstellung erfährt man, dass Knaben, die Zeugen von häuslicher Gewalt werden, als Erwachsene mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Tätern werden. Und Mädchen, die in einem von Gewalt geprägten Umfeld aufgewachsen sind, später überdurchschnittlich oft mit einem gewalttätigen Partner zusammenleben. Sie haben von ihren Eltern gelernt, Konflikte mit Gewalt zu lösen.

 

Die Schreie beenden

Dieser Kreislauf soll durchbrochen werden. Deshalb, und weil Gewalt in Paarbeziehungen junger Erwachsener häufig vorkomme, will die Ausstellung möglichst viele Jugendliche erreichen. Initiiert und umgesetzt wurde das Projekt von der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt, der Kantonspolizei Bern sowie dem Büro für Gleichstellung von Frau und Mann und für Familienfragen (GFB) Freiburg.

Bereits vor einem Jahr hatte «Stärker als Gewalt» in Biel Halt gemacht. Wegen der Pandemie mussten die Führungen aber eingestellt werden. Nun gibt es keine Einschränkungen mehr: Täglich können vier Gruppen die Ausstellung besuchen. Über 80 Schulklassen aus Biel, dem Seeland oder dem Berner Jura haben bereits einen Besuch gebucht.

Die Führung beginnt vor einer verschlossenen Tür. Ein Kantonspolizist und eine Mitarbeiterin von Solidarité Femmes Biel und Region führen die Jugendlichen in das Thema ein. Dann ertönen Schreie. Der Polizist fragt die Schüler, was sie nun tun würden. «Heute Morgen sagte einer, er schäme sich, aber er würde nichts tun, da er nicht wüsste was», sagt Pierrick Danz, der bei der Kantonspolizei Bern für Präventionsarbeit zuständig ist.

 

Was der Teddy-Bär erzählt

Danz drückt die Klingel neben der Haustür, die Schreie verstummen. Hinter der Haustür warten Informationen zu Gesetzen und rechtlichen Schritten. Dann geht es hinein ins vermeintlich traute Heim einer vierköpfigen Familie. Da ist das Zimmer eines Jugendlichen, ein Kinderzimmer, Küche, Bad und Elternschlafzimmer. Doch ganz offensichtlich ist einiges nicht in Ordnung: Der überdimensionierte Teddybär auf dem Kinderbett ist bandagiert, die Promis auf den Postern des Teenagers haben zerschlagene Gesichter und auf dem Küchentisch steht eine grosse Alkoholflasche. Dann das weniger Offensichtliche: Die verbogene Zinke der Gabel im Geschirrtrockner, die Pistole in der Nachttischschublade neben dem Elternbett und das, was der Teddybär erzählt, wenn man den Kopf auf seinen Bauch legt. Die Schülerinnen und Schüler erkunden in kleinen Gruppen die Räume. Drücken auf Knöpfe, worauf Betroffene erzählen. Vieles ist auf eine Art vertraut: Alle kennen Spannungen und Streit, manche wohl auch Gewalt. Doch wann geht es zu weit?

 

Schickst du mir ein Foto?

«Man spricht nicht darüber, was in den eigenen vier Wänden passiert», sagt Aurélie Landry, stellvertretende Co-Direktorin der Opferhilfestelle Solidarité Femmes. «Es ist ebenso wenig sichtbar, wie das, was in den sozialen Netzwerken vor sich geht.»

Im Zimmer des Jugendlichen kann man auf einem riesigen Smartphone einen Chatverlauf verfolgen. Die Schülerinnen sollen einen Hebel betätigen, sobald sie das Gefühl haben, dass sich die Konversation in eine problematische Richtung entwickelt. Chats mit gewaltverherrlichendem und sexuellem Inhalt sind ein Problem, mit dem junge Menschen laut Pierrick Danz immer öfter konfrontiert seien. Er habe regelmässig mit Jugendlichen zu tun, die in einer Beziehung oder einer Gruppe in den sozialen Netzwerken unter Druck gesetzt und etwa dazu gebracht würden, Nacktfotos von sich zu verschicken.

Nach dem Besuch des Zimmers diskutieren einige Schülerinnen darüber, wann sie weshalb Stopp gedrückt haben. Schon als das Mädchen ein Foto mit tief ausgeschnittenem Oberteil schickte? Als er filmte, wie sie sich küssen? Oder als er begann, ihr aufzulauern? Am Ende des Verlaufs sehen sie auf dem Bildschirm, wo die Mehrheit die Grenzen setzt. «Die haben viel früher gestoppt als ich», stellt eine Schülerin fest. Ihr Kollege sagt, dass er schon bei der ersten Nachricht intervenierte: «Also ehrlich, wenn jemand mit dir einen Chat beginnt mit: Ich finde dich so sexy …!»

Die Ausstellung zeigt den Jugendlichen die Mechanismen hinter gewalttätigem Verhalten in einer Beziehung auf und die emotionalen Abhängigkeiten. Und sie zeigt Auswege: In jedem Zimmer gibt es einen SOS-Schalter. Nach der Aktivierung taucht am Telefon oder auf dem Bildschirm eine Fachperson auf und informiert über Ansprechstellen und Unterstützungsangebote. «Wir erklären den Schülern auch, wo man sich an der jeweiligen Schule Hilfe holen kann», sagt Landry.

 

In allen Schichten

Die Ausstellung beleuchtet verschiedenste Facetten von Gewalt innerhalb der Familie, des Haushalts oder zwischen früheren und derzeitigen Partnern. So werden auch die Gewalterfahrungen thematisiert, die eine Person macht, wenn sie nicht frei über ihr Geld verfügen kann, ihre Kontakte kontrolliert werden, sie abgeschottet oder daran gehindert wird, die Landessprache zu lernen. Die Besucherinnen werden darauf aufmerksam gemacht, dass häusliche Gewalt alle Altersklassen, Schichten und Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Hintergründen betrifft. So wechseln sich auf dem elektronischen Klingelschild neben der Eingangstür Familiennamen wie Yung, Müller, Pittet oder Ayhem ab, und manche Namen ergänzt ein Doktortitel.

In der Ausstellung fehlt aber der Zeugenbericht eines männlichen Gewaltopfers. Ist es also so, dass Papa Mama schlägt? Nein, sagt Pierrick Denz. «Auch in homosexuellen Beziehungen gibt es Gewalt und es gibt auch Männer, die Gewalt durch Frauen erleiden, aber das ist ein Tabu.» Von einer Frau körperlich misshandelt zu werden, steht in Konflikt mit dem Stereotyp des starken Mannes. Denz vermutet deshalb, dass viele Männer sich aus Scham keine Hilfe holen.

Doch auch unter Berücksichtigung der Dunkelziffer ist die Faktenlage klar: Die Zahlen zeigen, dass viel mehr Frauen von häuslicher Gewalt betroffen sind. Gemäss Bundesamt für Statistik war der Anteil bei der Polizei gemeldeter Fälle 72 zu 28 Prozent.

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Zur Ausstellung

• Montag, 7. März, Französisch

• Dienstag, 15. März, Deutsch

• Mittwoch, 23. März, Französisch

• Donnerstag, 31. März, Deutsch

Die Ausstellung «Stärker als Gewalt» richtet sich in erster Linie an 15 bis 25 Jahre alte Menschen. Sie kann nur geführt besucht werden und läuft noch bis am 8. April in der Aula der Wirtschaftsschule BFB am Robert-Walser-Platz 9. Mitarbeitende von Solidarité femmes, der Opferberatungsstelle Biel sowie der Kantonspolizei Bern begleiten die Gruppen durch die Ausstellung. Es gibt noch freie Zeitfenster für Klassen- und Gruppenführungen (Anmeldung unter: info.big.sid@be.ch).

Öffentliche Führungen für interessierte Personen finden an folgenden Daten von 18 Uhr bis 19 Uhr statt:

Es ist keine Anmeldung nötig. mrs

Stichwörter: Biel, Wanderausstellung, Region

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