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Ipsach

Tipps holt sie sich bei ihrer Grossmutter

Mit 31 Jahren ist Beatrice Siegenthaler an Rheuma erkrankt. Sie erzählt, was es bedeutet, mit ständigen Schmerzen zu leben. Und was sie daraus gelernt hat.

Die Krankheit ist der 34-jährigen Beatrice 
Siegenthaler nicht anzusehen. 
Bild: Peter Samuel Jaggi
Sarah Grandjean
 
Es begann im Sommer 2018 mit einem Ziehen in den Beinen. Vielleicht eine Muskelzerrung, dachte Beatrice Siegen-thaler. Oder eine Venenentzündung? Borreliose? Ein Jahr zuvor hatte sie eine Zecke entfernen lassen, die tief in der Haut sass. Sie ging zum Hausarzt. Dieser verwies sie an eine Fachärztin, die sie wiederum weiterleitete, Venenspezialist, Neurologin, mehrere Monate lang liess sich Siegenthaler untersuchen, bis sie bei der Rheumatologie landete. Mittels Ausschlussverfahren wurde bei ihr die Rheumaerkrankung Fibromyalgie diagnostiziert. 31 Jahre alt war sie damals.
 
Nun sitzt Beatrice Siegenthaler am Küchentisch ihrer Wohnung in Ipsach. Helle Möbel, Geschirr im Abtropfgitter und am Kühlschrank die Kinderzeichnung eines Regenbogens mit einem Herzen darin. Sie spricht konzentriert mit rauer Stimme.
 
Die Diagnose kam überraschend. «Ich wusste zwar, dass auch Junge Rheuma haben können. Aber ich wäre nie darauf gekommen, dass ich es habe.» Wie viele verband auch sie diese Krankheit mit älteren Menschen. Auf der einen Seite war sie erleichtert, dass ihre Beschwerden nun einen Namen hatten. Auf der anderen Seite hatte sie auf etwas gehofft, was heilbar war. «Ich habe mich gefragt: Wie weiter?»
 
Auszeit auf dem Schiff
 
Aufgewachsen ist Siegenthaler auf einem Bauernhof im Emmental. Nach der Schule machte sie die Lehre als Detailhandelsfachfrau und später die Weiterbildung zur Arbeitsagogin. Sie arbeitete ein paar Jahre auf dem Beruf, ehe sie merkte, dass sie eine Auszeit brauchte. Das war kurz vor Ausbruch der Krankheit. Sie erhielt bei der Bielersee Schifffahrts-Gesellschaft eine Saisonstelle im Service und zog ins Seeland. Doch nach drei Monaten musste sie aufhören. Zu stark waren die Schmerzen beim Gehen und Tragen inzwischen geworden.
 
Aus ihrem Umfeld habe niemand daran gedacht, dass Siegenthaler in diesem Alter an Rheuma erkrankt sein könnte. Dabei ist das rückblickend gar nicht so unwahrscheinlich: Bei ihrer Grossmutter wurde mit 60 Jahren Rheuma diagnostiziert, bei ihrer Mutter mit 50 Jahren. Zu Beginn habe sie sich oft mit den beiden ausgetauscht, so Siegenthaler. Wie fühlt sich das bei dir an, was tust du gegen die Schmerzen?
 
Heute hat sie vor allem in den Oberarmen Schmerzen. Mal mehr, mal weniger, aber weh tut es immer. Manchmal ist es ein diffuses Ziehen, manchmal ein punktueller Schmerz, manchmal hat sie das Gefühl, ihre Arme seien sehr schwer. Jeden Tag macht sie Bewegungs- und Entspannungsübungen, eine Mischung aus Dehnen, Yoga und Qigong. Medikamente nimmt sie keine. Sie hat keine gefunden, die nützen. Ausserdem ertrug sie zum Teil die Nebenwirkungen schlecht, wurde so schlapp, dass sie den Alltag kaum bewältigen konnte.
 
Der Körper braucht mehr Pausen
 
Die Krankheit hat in ihrem Leben viel verändert. «Es ist nicht mehr so viel möglich wie zuvor», sagt sie. Zwar könne sie noch immer dieselben Dinge machen, jedoch weniger intensiv. Statt mehrtägiger Wanderungen macht sie Spaziergänge. Statt ganze Nächte durchzutanzen feiert sie eine oder zwei Stunden. Sie muss auf ihren Körper hören, und wenn die Schmerzen zunehmen, ist genug. «Es gibt Tage, da denke ich: Es lässt sich damit leben. Und dann gibt es Tage, an denen ich Mühe habe, die Schmerzen zu akzeptieren.» Frustriert wirkt sie an diesem Morgen nicht. Eher so, als hätte sie sich mit ihrer Situation abgefunden und versuche, ihr auch Gutes abzugewinnen.
 
Sie hat keine Angst davor, dass die Krankheit in Zukunft schlimmer werden könnte. «Ich nehme einfach Tag für Tag.» Bei Fibromyalgie nähmen die Beschwerden tendenziell nicht zu, solange sie es körperlich nicht übertreibe. Würde sie allerdings den ganzen Tag schwere Dinge herumtragen oder acht Stunden am Stück arbeiten, könnte es Schübe geben.
 
Nach der Diagnose hätte Siegenthaler wieder in den ersten Arbeitsmarkt einsteigen wollen. Eine Zeit lang hat sie zu 50 Prozent als Agogin gearbeitet, doch das war zu viel. Sie ermüdet schneller als vor der Krankheit, ist weniger leistungsfähig und belastbar. Schliesslich musste sie sich eingestehen, dass sie ihren Beruf im Moment nicht ausüben kann. Seit Januar arbeitet sie zusammen mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in einer begleiteten Tagesstruktur im Emmental. Ziel ist es, herauszufinden, wie lange sie welche Art von Arbeit erledigen kann. Plötzlich steht sie, die Agogin, die früher Menschen bei der beruflichen Integration unterstützt hat, auf der anderen Seite. Auf der Seite der Klientin. Anfangs sei das schwierig gewesen, sagt sie. «Ich musste mein Ego ablegen und mir sagen: Es ist jetzt einfach so.»
 
Drei Jahre lebte sie vom Krankentaggeld ihres ehemaligen Arbeitgebers, nun von einer Erbschaft. Bei der Invalidenversicherung (IV) hat sie einen Antrag auf Rente gestellt, wo sie noch auf Bescheid wartet. Siegenthaler hofft, dass sie künftig wieder Teilzeit arbeiten kann. Doch für sie ist klar: «Ich werde nicht so viel arbeiten können, dass ich damit meinen Lebensunterhalt verdienen kann.» Erhält sie keine IV-Rente, wird sie aufs Sozialamt gehen.
 
Arbeit ist nicht alles
 
Beatrice Siegenthaler sagt, durch die Krankheit lerne sie, besser auf ihren Körper zu hören. Auch ihre Einstellung hat sich verändert: «Mir ist bewusst geworden, dass Arbeit nicht alles ist im Leben.» Hat sie früher Vollzeit gearbeitet und viel in den Job investiert, ist dieser nun in den Hintergrund gerückt. Wichtig ist, dass sie zu sich schaut. Denn nur, wenn es ihr gut gehe, könne sie auch wieder etwas geben.
 
Sie steht auf und öffnet einen Schrank. Vielleicht bewegt sie sich etwas langsamer als andere, doch die Krankheit sieht man ihr nicht an. Sie legt einen Flyer für einen Bewegungskurs auf den Tisch, den sie jede zweite Woche in der Lysser Netzwärkstatt anbietet, für Menschen mit und ohne chronische Schmerzen. Es ist ein Projekt, das erst durch ihre Krankheit entstanden ist.
 
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Was ist Rheuma?
 
Rheumatismus ist eine Sammelbezeichnung für über 200 verschiedene Erkrankungen des Bewegungsapparates.
 
Zwei Millionen Schweizerinnen und Schweizer leiden an rheumatischen Beschwerden. Das ist fast ein Viertel der Bevölkerung.
 
Es kann jede Altersgruppe treffen.
 
An Fibromyalgie erkranken Schätzungen zufolge 0,5 bis 5 Prozent der Bevölkerung. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Meist erkrankt man zwischen 20 und 50 Jahren daran.
 
Quelle: Rheumaliga Schweiz. sg

 

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