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«Der Rolls Royce des Ethanols»

Aarberg Die Schweizer Zucker AG stellt jetzt auch Ethanol her, also den Alkohol für Spirituosen wie Gin oder Absinth.Es ist die erste solche Anlage in der Schweiz seit Langem – und sie stösst bei Brennereien auf grosses Interesse.

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Tobias Graden

Oliver Matter staunt. «Das ist eine interessante Anlage», sagt er, als er im jüngsten Bau auf dem Gelände der Zuckerfabrik in Aarberg steht und Tanks, Leitungen und Regler betrachtet. Er kennt sich aus mit den Vorrichtungen in Brennereien, ist er doch Inhaber der Matter-Luginbühl AG, die in Kallnach Spirituosen herstellt.

Aber das hier ist ein anderes Kaliber als das Gerät, das er 
bedient. Einmal angeworfen, kann diese Anlage im 
24-Stunden-Betrieb laufen, 700 000 Liter fast reines Ethanol kann sie pro Jahr liefern, wenn sie voll ausgelastet ist.

Die Rede ist von der neuen Ethanol-Produktionsanlage, die gestern Nachmittag offiziell eröffnet worden ist. Mit ihr diversifiziert die Schweizer Zucker AG weiter, und es ist innert kurzer Zeit die dritte neue Anlage, die das Unternehmen nun in Betrieb nimmt, die Verwaltungsratspräsident Andreas Blank stolz betont: Da war zuerst das Holzkraftwerk in Aarberg, dann die Holzvergasung in Frauenfeld, jetzt die Ethanol-Produktion wiederum in Aarberg.

Die Investitionen folgen denselben Zielen: den Betrieb der Zuckerproduktion nachhaltiger zu gestalten und neue Umsatzträger zu finden. Nicht zu vernachlässigen ist zudem der positive Effekt auf die Wahrnehmung der hiesigen Zuckerproduktion: Auch beim Ethanol sticht der Trumpf der Swissness.

Bislang wurde alles importiert

Ethanol ist nichts anderes als das, was umgangssprachlich als Alkohol bezeichnet wird. Was jenen Alkohol betrifft, der in der Schweiz zur Spirituosenproduktion verwendet wird, so ist dieser bislang ausschliesslich importiert worden. Das gilt für Spirituosen, bei denen er nicht durch den Brennvorgang selber entsteht, sondern hinzugegeben wird, beispielsweise für Gin, Kräuterschnäpse, Absinth oder Apéroliköre. So sehr also ein Produkt wie der Appenzeller Alpenbitter auch als schweizerisch wahrgenommen wird: Das Ethanol darin stammte aus aller Welt, aus Brasilien beispielsweise oder aus Pakistan. Dieses Import-Ethanol wird vornehmlich aus Getreide oder Zuckerrohr gewonnen.

In Aarberg nun wird Ethanol aus Rübenmelasse hergestellt. Diese Melasse ist ein Nebenprodukt der Zuckerproduktion. Sie wird bislang beispielsweise als Futter für Kühe verkauft, es lässt sich aus ihr aber auch hochwertiges Ethanol herausdestillieren. An Nachschub mangelt es dabei nicht, wie Guido Stäger ausführt, CEO der Schweizer Zucker AG. In den Silos lagert lange genug Melasse, um die Ethanolproduktion das ganze Jahr zu betreiben, auch ausserhalb der Rübenkampagne. Allerhöchstens zehn Prozent der Melasse werden künftig für die Ethanol-Produktion verwendet. Das Aarberger Ethanol ist dabei nicht nur regional, sondern auch nachhaltig: Die Energie für die Produktion stammt aus dem eigenen Holzkraftwerk.

Höherer Preis,
höchste Qualität

Ebenfalls eminent wichtig: Die Qualität stimmt. «Nach einer schwierigen Lernkurve haben wir es im Griff, erstklassiges Ethanol herzustellen», sagt Stäger. Das bestätigt Florian Krebs, CEO von Alcosuisse, welche die hiesigen Hersteller mit Ethanol versorgt. «In unseren Lagern haben wir über 60 verschiedene Qualitäten», sagt Krebs, «doch was aus Aarberg kommt, ist der Rolls Royce des Ethanols.» Dies bedeutet: Das Ethanol ist sehr rein sein, es enthält möglichst wenig Fremdstoffe, ist auf bis zu 97 Prozent hinaufdestilliert und seine organoleptischen Eigenschaften stimmen, es hat also möglichst keinen Eigengeschmack und -geruch. So wird das Ethanol maximal aufnahmefähig für Essenzen, Aromen oder Kräuter, die ihm beigefügt werden. «Das Ethanol aus Aarberg ist unglaublich neutral und pur», sagt Krebs.

Diese Qualität ist auch nötig, um den höheren Preis rechtfertigen zu können, den die Produktion in der Schweiz fordert. Etwa 50 bis 100 Prozent teurer als gute Importware sei das Aarberger Ethanol, schätzt Guido Stäger. Die Endkunden werden davon aber kaum etwas merken: Für den Preis einer Flasche Gin ist das Ethanol kein entscheidender Faktor.

Um die 2,5 Millionen Franken hat die Schweizer Zucker AG laut Guido Stäger investiert. Ist sie voll ausgelastet, wird sie die erwähnten 700 000 Liter Ethanol pro Jahr produzieren. Für die gesamte Schweizer Zucker AG werden das «ein paar wenige» Umsatzprozent sein, für die Spirituosenbranche ist es gleichwohl ein relevanter Impuls. Um die Investition zu sichern, hat die Schweizer Zucker AG für die ersten paar Jahre eine Abnahmeregelung mit der Alcosuisse vereinbart: Diese wird exklusiv beliefert und ist im Gegenzug zum Kauf einer bestimmten Menge verpflichtet.

Der Italiener ist jetzt
noch mehr ein Seeländer

Doch beim Trinkethanol soll es nicht bleiben. In einigen Monaten soll auch pharmazeutisches Ethanol lanciert werden. Dieses kann in der Medizin eingesetzt werden, aber auch in Kosmetik oder zur Desinfektion. Diese Branchen sind zwar deutlich preissensibler. Doch Wirtschaftsdirektor Christoph Ammann (SP) gibt an der gestrigen Eröffnung zu bedenken, dass angesichts der Weltlage auch hier eine Verschiebung der Prioritäten möglich sein und eine Verringerung der Abhängigkeit vom Ausland wichtiger werden könnte. Wäre die Anlage in Aarberg schon etwas früher gelaufen, hätte sie sicherlich gut Ethanol für Desinfektionsmittel verkaufen können. Sie ist aber kein Kind der Pandemie: Erste Planspiele und Projektierungsarbeiten haben in der Schweizer Zucker AG schon vor mehreren Jahren begonnen.

Zurück zu den Brennereien: Ein Dutzend von ihnen haben sich zur Eröffnung eingefunden, es sind die allerersten Kunden. Sie kommen aus allen Landesteilen. Da ist etwa die Distilleria Wittwer, die sich in Biasca im Tessin auf Limoncello spezialisiert hat. Da sind alteingesessene Absinth-Brenner aus dem Val de Travers oder die junge Berner Matte Brennerei, die eine urbane Zielgruppe anspricht. Und da ist Oliver Matter aus Kallnach. Für ihn sind die USA ein wichtiger Markt. Für viele seiner Produkte verwendet er importiertes Getreide-Ethanol, bei einem Wechsel müsste er bei der zuständigen US-Behörde eine neue Zulassung beantragen. Aber für den Martinazzi, den «Italiener aus dem Seeland», hat er auf Aarberger Ethanol umgestellt. «Alles, was möglich ist, kommt beim Martinazzi nun aus der Region», sagt Matter mit Freude, «sollten es noch mehr Seeländer Zutaten sein, müssten wir hier Orangen anpflanzen können.»