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Sich mit Ruhe und Fokus erfrischen

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Die nackten Füsse im morgendlich kühlen Gras. Die Hände ineinander verschränkt, drehend. In die eine Richtung. Dann in die andere. Hände lösen und grössere Drehungen mit den Handgelenken. Dann die Schultern. Nach vorne. Und nach hinten. Die Hüfte, links herum, dann rechts herum. Gut siebzig Personen schauen an diesem Mittwochmorgen um neun Uhr in die gleiche Richtung. Und eine Person schaut in die entgegengesetzte. In die Gruppe. Sie zeigt vor, die Hände auf die Knie, leicht in die Hocke und wieder drehen. Nach links. Nach rechts. Dann richtet sich die eine entgegengesetzt schauende Person wieder auf und kreist den rechten Fuss, siebzig Personen machen es nach. Dann dasselbe mit links. Manche nehmen lieber den spiegelverkehrten Fuss. Egal. Hauptsache es wird gekreist. Hauptsache es wird leicht bewegt.

Es ist erst die Aufwärmphase. Vereinzelt tröpfeln noch weitere Menschen auf die Wiese der kleinen Schanze in Bern, bei den Holzliegen. In bequemer Trainingskleidung. Sporthose oder luftiges Shirt. Spontane stellen die Ledertasche ins Gras, ziehen die High Heels aus und machen mit, im eleganten Deuxpièces. Andere Morgenmenschen eilen vorbei an der grossen Gruppe, zur Arbeit, auf den Bus, den Zug, mit einem Kaffeebecher in der Hand. Manche bleiben kurz stehen und schauen zu, wie sich die siebzig Menschen langsam von den Aufwärmübungen zum eigentlichen Teil bewegen. Einige versuchen sogar, diese langsamen Bewegungen des Qigongs nachzuahmen, bevor sie dann doch entscheiden weiterzugehen. Andere wiederum sehen aus, als würden sie die grosse Gruppe gar nicht bemerken.

Ein Erfolg

Qigong gilt als die vierte Säule der chinesischen Medizin. In Privatlektionen kann das Training mit feinst abgestimmten persönlichen Übungen nach einer chinesisch-medizinischen Diagnose für jeden und jede als Prävention oder Heilung praktiziert werden. In China gibt es gar extra Qigong-Kliniken. Oder für Geübte, alleine, zu Hause, um in den Tag zu starten. Oder eben, wie man dies aus asiatischen Ländern kennt, in Gruppen, draussen, im Grünen, in der Stadt, im Park. Dann geht es zum einen um die Bewegung an und für sich, zum anderen ums Gemeinschaftsgefühl. Dieser Idee folgten im vergangenen Jahr die drei kantonalen Gesundheitsligen Krebsliga Bern, Lungenliga Bern und Rheumaliga Bern und Oberwallis, gemeinsam mit Pro Senectute Kanton Bern. Sie bieten dreimal wöchentlich «Qigong im Park» an. Kostenlos. Montags auf der Schützenmatt in Burgdorf, mittwochs auf der Kleinen Schanze in Bern und freitags im Elfenaupark in Biel.

Und das mit Erfolg. Lancierten das Projektinitiantenquartett «Qigong im Park» im vergangenen Jahr nur in Bern, sind diesen Sommer mit Biel und Burgdorf bereits zwei neue Standorte dazugekommen. Nächstes Jahr wolle das Team zusätzlich noch einen Morgen in Thun anbieten, so Nicole Stutzmann, Geschäftsführerin der Krebsliga Bern. Die Idee sei selbstredend durch die Pandemie entstanden und ist als konkreten Beitrag zur Gesundheitsförderung und Prävention zu verstehen. Man solle sich bewegen. Draussen, an der frischen Luft und mit genügend Abstand zum Nachbarn. Durch die Unterstützung der Gemeinden und einiger Sponsoren und Spenden können die Instruktorinnen und Instruktoren marktgerecht entlohnt werden und das einstündige Angebot für die Teilnehmenden kostenfrei bleiben. Qigong an und für sich ist eine Bewegungs-, Körperbewusstseins- und Atemschulung, die sanft und darum für alle möglich ist. So solle es auch künftig in finanzieller Hinsicht keine Hürden geben für diese Morgenstunden.

Eine Gemeinschaft

Ist man zu weit hinten an diesem Mittwochmorgen und das erste Mal überhaupt dabei, ist es umso wichtiger, dass man die Instruktorin sieht. Denn vorbei rauschende Autos, Busse und kleine Lastwagen machen nicht nur das Verstehen des Gesagten zu einer Konzentrationsübung, sondern auch das Loslassen und Ausblenden des Alltags und der unmittelbaren Umgebung. Das nämlich, ist eine der Aufgaben des meditativen Qigongs. Zu sich finden. Den Atem fliessen lassen. Ruhe. Entschleunigung. Entspannung. Raus aus der andauernden Hektik. Weg vom Handy. Und schliesslich, durch genau diese erlangte Ruhe, Energie tanken für den Rest des Tages. Eine kleine Herausforderung in Bern, den Fokus auf sich zu behalten. Doch sobald die Übungen im Fluss aneinandergereiht wiederholt werden, ist man drin, in sich. Tatsächlich ist es in dieser Hinsicht etwas einfacher im Bieler Elfenaupark, der von keiner befahrenen Strasse tangiert wird. Da schreit höchstens der benachbarte Pfau, während etwa fünfzig Menschen gemeinsam im «Pfau» stehen.

«Wir sind schon seit letztem Jahr dabei», erzählt, wieder in Bern, eine Dame in bunter Pluderhose und mit zum Dutt hochgesteckt grauem Haar. «Solange wir noch raus können, nutzen wir das aus», ergänzt ihre Freundin mit den roten Krausehaaren und dem blauen Shirt. Dieses Gemeinschaftsgefühl, die gemeinsame Energie, das sei so wichtig in unserer heutigen Zeit. «Und es tut einfach so gut, sich draussen zu bewegen.» Die beiden machen sonst Bauch- und orientalischen Tanz und Shibashi, jeden Tag achtzehn Übungen zu Hause.

Eine Erfrischung

Für Qigong-Neulinge im mitteljungen Alter und mit mittelprächtiger Fitness, erfahren in Yoga und Pilates, sind die ersten zwanzig bis dreissig Minuten vielleicht nicht wirklich nachvollziehbar. Ist das jetzt körperliches Training? Oder doch eher Meditation? Warum brauche ich mich nicht wirklich anzustrengen? Dieses Einfache! Man ist es sich doch gar nicht gewohnt! «Qigong kann man nicht erklären», sagt Pia Schibler. Sie leitet diesen Sommer, noch bis Ende September, die Stunden im Bieler Elfenaupark. Die Arbeit mit den Energien, im Einklang mit der Natur, das ist für die Lysserin besonders wichtig im Qigong. Das Gleichgewicht. In Privatlektionen könne man natürlich tiefer gehen, die Meridiane kennenlernen und wenn man es regelmässig mache, würde der Körper und die Organe anfangen, sich selbst zu regulieren. Im Park gehe es aber eher um den Ausgleich. Und die Energie, die man im hektischen Alltag oben im Körper habe, nach unten, zur Mitte, zum Bauchnabel, zum Zentrum zu führen. Aber eben: «Qigong kann man nicht erklären. Qigong muss man erleben.» Vera Urweider

Info: Qigong im Park, noch bis zum 23. September 2022, jeweils Freitag von 9 bis 10 Uhr, Elfenaupark, Unterer Quai 7, Biel. Das Angebot ist kostenlos, ohne Voranmeldung und findet bei jeder Witterung statt. Spendenbox für wer will. www.qigongimpark-bern.ch/biel