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Daniel Gisiger setzt auf ehemaligen Skispringer

Morgen erfolgt der Start zur Tour de France. Der Bieler Daniel Gisiger ist sie 1978 gefahren und 
hat sich einen Traum erfüllt. Sein Topfavorit auf den Gesamtsieg flog früher erfolgreich durch die Luft.

Primoz Roglic (vonre in der Mitte) gehört zu dem Topfavoriten auf dem Toursieg. Bild: Keystone

Patric Schindler

Siebenmal hat der Bieler Daniel Gisiger den Giro d’Italia bestritten. Zweimal ist er an der Tour de France an den Start gegangen (1978 und 1982). Bei der letzteren Ausgabe musste er zwei Tage vor Schluss aufgeben. An der Vuelta ist der heutige Nationaltrainer Bahn sowie Strasse (U19) bei Swiss Cycling nie an den Start gegangen. Die Spanien-Rundfahrt hat damals immer Ende April/Anfang Mai gleichzeitig wie die Tour de Romandie stattgefunden. Sie war Gisigers Lieblingsrundfahrt, die er zehnmal gefahren ist.

Wenn der 65-Jährige an den Sommer 1978 denkt, kommt er ins Schwärmen. Mit dem Aufgebot seines damaligen französischen Teams Lejeune-BP für das renommierteste Radrennen der Welt erfüllte er sich einen Kindheitstraum. «Für einen talentierten und ehrgeizigen Velorennfahrer ist es einfach das Grösste, an der Tour de France teilzunehmen», sagt Gisiger, der damals in seiner ersten Saison als Profi gestanden ist. Dass die Frankreich-Rundfahrt in der Öffentlichkeit oft auch als das härteste Rennen angesehen wird, habe in erster Linie mit der Medienpräsenz und der Tradition des Anlasses zu tun. «Aber ein Giro ist je nach Streckenführung genau gleich anspruchsvoll wie eine Tour de France oder sogar noch härter», sagt Gisiger, der 1981 und 1985 eine Etappe der italienischen Rundfahrt gewonnen hatte.

Das Mitglied des RC Olympia Biel mag sich noch sehr gut an die Tour de France erinnern. «Das Medieninteresse war unglaublich. Schon alleine die Teampräsentation war ein Spektakel. Man fühlte sich manchmal wie in einem anderen Film. Es war ein grossartiges Gefühl», sagt Gisiger. Beinahe wäre es 1978 nicht soweit gekommen, denn der Seeländer war kurz vor der Grande Boucle (grosse Schleife) gestürzt. «Die Nachwehen des Sturzes habe ich noch während der Tour de France gespürt, aber schliesslich habe ich sie zu Ende gefahren», sagt Gisiger. Der Bieler konnte bei seiner ersten Frankreich-Rundfahrt sogar eine Etappenankunft auf der legendären Alpe d’Huez miterleben.

Eindrückliche l’Alpe d’Huez

«Es war ein sehr eindrückliches Gefühl, diesen Berg hinaufzufahren, begleitet von zahlreichen und begeisterten Fans entlang der Strecke. Die Zuschauer können einem sehr viel Energie mit auf den Weg geben. Sie gehören zum Spektakel Tour de France einfach dazu.» Unvergessen bleibt Gisiger auch, was er am Tag nach dem Aufstieg auf die Alpe d’Huez gemacht hatte. «An unserem Ruhetag fuhren wir den Berg herunter und dann wieder hinauf», so der Bieler. Noch eindrücklicher hatte er die Ankunft in Paris in Erinnerung. «Auf den Champs-Elysées ins Ziel zu fahren, ist einfach unglaublich. Ein unbeschreibliches Gefühl», sagt Gisiger, der im Gesamtklassement 75. wurde.

Gisiger wird auch ab morgen die Tour de France wie jedes Jahr am Fernsehen verfolgen, «wenn es denn die Zeit zulässt», sagt der Coach, schliesslich ist er erst in rund eineinhalb Jahren nur noch Radsportfan. Eigentlich hätte er Ende dieses Jahres pensioniert werden sollen, aber die Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. «Es war mir ein Anliegen, mein Olympia-Projekt mit der Schweizer Nationalmannschaft abzuschliessen. Deshalb möchte ich gerne noch die Olympischen Spiele im nächsten Jahr in Japan als Bahn-Nationaltrainer bestreiten.» Sieht man Daniel Gisiger im Sommer 2022 als Pensionär entlang einer Strecke an der Tour de France stehen? «Ich kann mir das nicht vorstellen. Die Frankreich-Rundfahrt werde ich auch in Zukunft vor dem Fernseher verfolgen», sagt der Bieler. Wer bei einer Flachetappe an den Strassenrand stehe, komme nur für kurze Zeit in den Genuss, die Fahrer zu sehen. In den Bergen komme man als Zuschauer schon mehr auf seine Kosten. Aber am liebsten schaut sich Gisiger sowieso Wettkämpfe im Grenchner Tissot Velodrome an. «Dort macht es mir am meisten Spass, den Radsport zu verfolgen», sagt Gisiger. Auf der Bahn fühlte er sich auch als Fahrer wohl. 1977 gewann er an den Weltmeisterschaften im venezolanischen San Cristobal in der Einerverfolgung Bronze. Dasselbe Edelmetall errang er in der Mannschaftsverfolgung zusammen mit Robert Dill-Bundi, Hans Känel und Walter Baumgartner.

Der frühere Zeitfahrspezialist ist froh, dass die Strassensaison doch noch seit dem 1. August erneut lanciert worden ist. Obschon in dieser Saison noch nicht viele Rennen gefahren wurden, ist für den Seeländer klar, wer der Topfavorit auf den Toursieg ist. Es ist Primoz Roglic, der im letzten Jahr die Vuelta ins Trockene gebracht hatte. Würde der Slowene das prestigeträchtigste Velorennen der Welt gewinnen, wäre es die Fortsetzung einer unglaublichen Story. Erst vor neun Jahren wechselte der frühere Junioren-Weltmeister im Skispringen zum Radsport.

Teams sind in einer Blase

Gisiger hofft, dass trotz der Pandemie eine faire Tour durchgeführt werden kann, schliesslich ist es durchaus möglich, dass Teams wegen Coronafällen ausgeschlossen werden können. Zwei positive Coronatests im gleichen Team innerhalb von sieben Tagen führen bei der Tour de France automatisch zum Ausschluss einer Mannschaft. Zu einem Team zählen dabei nicht nur die acht Fahrer, sondern auch Team-Offizielle oder Betreuer. Diese Gruppe von 25 bis 30 Personen soll sich während der Frankreich-Rundfahrt im Hotel, im Bus sowie im Start- und Zielbereich in einer sogenannten eigenen Blase aufhalten. «Die Teams werden sicher gut von der Aussenwelt abgeschottet werden. Deshalb hoffe ich, dass es alle Mannschaften bis ins Ziel nach Paris schaffen werden», erklärt Gisiger. Aber nicht nur das Coronavirus könnte für viele Teams zu einem Problem werden.

In den letzten Wochen gab es zahlreiche gravierende Stürze bei Rennen. So stürzte unter anderem der Deutsche Emanuel Buchmann auf einer Abfahrt bei der Dauphiné-Rundfahrt schwer. Sein Landsmann Maximilian Schachmann erlitt bei der Lombardei-Rundfahrt einen Schlüsselbeinbruch, weil ein Privatauto ihn gerammt hatte. Beim gleichen Rennen zog sich der Belgier Remco Evenepoel einen Beckenbruch zu. Bei der Polen-Rundfahrt erlitt der Niederländer Fabio Jakobsen bei einem Sprint schwere Gesichtsverletzungen. Als Reaktion auf die vielen Stürze im Radsport will der Weltverband UCI seine Sicherheitsmassnahmen verstärken. Bis zum Ende der Saison soll bei den Rennen die Zahl der Inspektionen vor und während der Rennen erhöht werden. Gisiger glaubt nicht, dass es heute mehr Stürze als früher gibt. «Es ist unmöglich für die Organisatoren, alle gefährlichen Streckenabschnitte zu entschärfen», sagt der Bieler. Wichtig sei, dass sich die Fahrer im Vorfeld der Rennen ein gutes Bild über die Strecke machen können und über heikle Passagen gesprochen wird. «Die Fahrer sind sich des Risikos bewusst, das sie eingehen. Ich war auch ein paar Mal schwer gestürzt, hatte aber das eine oder andere Mal auch Glück», sagt der Seeländer.

Bieler schlug Radsportlegende

Nun hofft Gisiger auf drei spannende und interessante Wochen in Frankreich, in denen er unter anderem das Abschneiden seiner einstigen Schützlinge auf der Bahn, Stefan Küng und Marc Hirschi, besonders mitverfolgen wird. Und das eine oder andere Mal wird der Bieler sicher auch ans Jahr 1978 zurückdenken, als er an der Grande Boucle den späteren Gesamtsieger, die französische Radlegende Bernard Hinault, am Prolog im Kampf gegen die Uhr geschlagen hatte.