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Der Baumeister träumt vom Meer

Nationalcoach Daniel Gisiger hat mit der Schweiz in Tokio drei olympische Diplome gewonnen. Der Bieler blickt zurück und freut sich, bald als Pensionierter mit dem Velo die Welt neu zu entdecken.

Bild: bt/a

Patric Schindler

Vor 15 Jahren hat Daniel Gisiger ein Projekt gestartet, das den Schweizer Radsport auf der Bahn geprägt hat. Der Bieler fuhr während seiner Zeit als Radprofi nicht nur auf der Strasse, sondern auch auf der Bahn um die Wette. Deshalb lag ihm nach seinem Rücktritt als Fahrer auch die Weiterentwicklung des Bahnradsports am Herzen. Als Coach verfolgte er die Vision, den Schweizer Nachwuchs für Trainings und Rennen auf dem Holzoval zu begeistern und später international konkurrenzfähig zu machen. Gisiger dachte vor allem an die Olympischen Spiele. Sein Traum war es, den Bahnvierer wieder an den grössten Sportanlass der Welt zu bringen.

Dass er heute als Baumeister eines der weltbesten Teams in der Mannschaftsverfolgung gilt, ist spätestens seit fünf Jahren bekannt. An den Olympischen Spielen von Rio gehörte die Schweiz wieder zu den acht Ländern, die sich für die Olympischen Spiele qualifizieren konnten. Das Podest war für den Schweizer Bahnvierer nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Teamleader Stefan Küng allerdings ausser Reichweite. Am Schluss klassierte sich die Schweiz auf dem 7. Rang und gewann ein olympisches Diplom. Vor zwei Jahren resultierte in Neuseeland mit dem Schweizer Rekord der erste Weltcupsieg. Erstmals blieb das Quartett über die 4000 Meter unter der Marke von 3:50 Minuten.

 

Schweizer Rekord aufgestellt

Letztes Jahr wollte Gisiger als Trainer aufhören und sollte pensioniert werden. Die Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Seeländer wollte aber sein Bahnprojekt bis zu den Olympischen Spielen weiterführen. Die Schweizer träumten davon, in Tokio mit einer Medaille auf Tuchfühlung zu gehen. Dazu kam es wegen der starken Konkurrenz allerdings nicht. Im Klassierungsrennen um den 7. Rang konnten sich Robin Froidevaux, Valère Thiébaud, Cyrille Thièry und Stefan Bissegger gegen Grossbritannien nicht durchsetzen. Im Ziel blieb das Quartett in der Zeit von 3:50,041 gut neun Zehntel über dem tags zuvor aufgestellten Landesrekord. Auf die favorisierten Briten fehlten gut 4,5 Sekunden. Am Schluss resultierte der 8. Rang. Olympiasieger wurden die Italiener, die einen Weltrekord aufstellten (3:42,032).

 

Gisiger lobt die Japaner

Drei Diplome haben die Schweizer auf der Bahn an den Olympischen Spielen von Tokio eingefahren. «Schade, dass es beim Bahnvierer nicht zu mehr gereicht hat. Wir haben uns natürlich eine bessere Platzierung erhofft», sagt Gisiger, der wegen den Rahmenbedingungen rund um die Pandemie auf sehr spezielle Olympische Spiele zurückschaut. «Wir mussten uns nicht nur aufs Sportliche konzentrieren, sondern auch darauf, alle Schutzmassnahmen einzuhalten», sagt der Seeländer. Jeden Morgen wurde ein PCR-Test gemacht und zudem musste man permanent eine Maske tragen. «Alle waren aber sehr diszipliniert», sagt Gisiger, der auch die Organisatoren lobt. «Die Japaner haben das wirklich toll gemacht, alles lief rund», sagt er. Es habe sich auf jeden Fall gelohnt, in Tokio mit von der Partie zu sein. Die Schweizer wohnten nicht im olympischen Dorf, sondern rund zweieinhalb Autostunden von Tokio entfernt. Immerhin war die Wettkampfstätte nur drei Kilometer von der Unterkunft der Schweizer entfernt.

Der 66-jährige Gisiger gibt den Stab nun an seinen Nachfolger, dem 41-jährigen Franzosen Mickaël Bouget, weiter. Gisiger wird ihn bis Ende Jahr einarbeiten. «Viele Rennen haben sich wegen der Pandemie verschoben. Es wäre unverantwortlich von mir gewesen, einfach nach Tokio aufzuhören und alles Mickaël Bouget zu überlassen», sagt Gisiger. Er werde ihm nun gerne noch ein paar Monate zur Seite stehen, den Lead habe aber dann schon bald Bouget. Das kommende Jahr ist dann definitiv gleichbedeutend mit dem Startschuss in die Pension.

In Tokio hat sich Gisiger noch keine Gedanken über seine Pension gemacht. «Ich war voll auf meine Aufgabe fokussiert. Natürlich ging mir schon durch den Kopf, dass es meine letzten Olympischen Spiele als Nationalcoach sind», sagt Gisiger. Er habe schon als Radprofi erlebt, wie es ist, von einem schönen Kapitel des Lebens Abschied zu nehmen. Nun mache er dasselbe, aber einfach in einer anderen Funktion. Er freue sich aber sehr aufs neue Kapitel. «Ich werde nicht nur mehr Zeit für mich, sondern auch für meine Familie haben», sagt Gisiger. Und natürlich könne er mit der dazugewonnenen Freizeit auch mehr Velofahren. Und vielleicht wird aus Gisiger noch ein Abenteurer auf zwei Rädern. «Mein Traum war es schon immer, einfach mit dem Velo nach Lust und Laune loszufahren. Dann irgendwo zu halten und im Zelt oder im Hotel zu schlafen», sagt der Bieler. Das würde er gerne mit seiner Lebenspartnerin machen. «Vielleicht fahren wir bis ans Meer», sagt Gisiger.

 

Wie weit kommt Hirschi?

Den Seeländer wird man aber als Zuschauer und Fan des Radsports kaum an einem Klassiker-Rennen oder an einer Etappe der Tour de France sehen. «Ich bin die meisten Rennen, die ich heute am Fernseher verfolge, ja selber gefahren», erklärt Gisiger. Er werde als Pensionär bei den dreiwöchigen Rundfahrten nicht permanent vor dem Fernseher sitzen und sich die Rennen ansehen. «Ich werde einzelne Etappen sicher verfolgen», sagt er. Wird der Bieler den Berner Marc Hirschi, den er einst auf der Bahn coachte, in Paris einmal an der Tour de France in der Gesamtwertung zuoberst auf dem Podest sehen? «Wir kennen die Limiten von Marc nicht», erklärt Gisiger. Er habe letztes Jahr an der Tour de France gezeigt, dass er grossartige Leistungen erbringen kann. «Ich denke, dass es möglich ist, dass er die Tour gewinnt», sagt Gisiger. Das müsse aber nicht nur er wollen, sondern auch sein Team.

Die Chancen, dass der Bieler den Berner in Zukunft auf der World Tour weiter siegen sieht, sind gross. Vielleicht schaut sich dann Gisiger Hirschis Zieleinfahrten live am Fernsehen an. Irgendwo am Meer nach einer gemütlichen Velotour.