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Standpunkt

Der gläserne Mensch

Digitalisierung ist Hype und Trend, wie es so schön im Neudeutschen heisst.

Walter Mengisen

Jeden Tag kann man Veranstaltungen zu diesem Thema besuchen und die Medien sind randvoll mit dieser Thematik. Was bedeutet dies für den Sport und dessen Entwicklung? Bestehen wir bald nur noch aus «Nullen und Einsern» und sind vor allem virtuell unterwegs?

Die Sportwissenschaft beschäftigt sich schon lange mit dem Erfassen der verschiedenen Faktoren beim Sporttreiben. Die Herzfrequenzmessung war eine der ersten Methoden, um digitale Daten des Sportlers zu erhalten. Was zuerst nur unter Laborbedingungen möglich war, trägt heute jede Joggerin am Handgelenk. Aber das war nur der Anfang einer Entwicklung. Dank der Miniaturisierung der Messgeräte ist es heute möglich, zu jedem Bruchteil einer Sekunde zum Beispiel bei einem Spieler nebst der Herzfrequenz seine genaue Position zu bestimmen, auch seine Distanz zu den Mitspielern und Gegnern, seine Geschwindigkeit und vor allem seine Beschleunigung zu erfassen. All diese Daten werden ohne Zeitverzug auf dem Computerbildschirm dargestellt. Selbst die Laufwege des Spielers können lückenlos aufgezeichnet werden.

Mit der Erfassung der Herzfrequenz allein lässt sich die Leistung nur sehr bedingt messen, denn man kann am Ende eines Spiels immer noch eine Herzfrequenz von 160 Pulsschlägen haben aber viel langsamer sein als zu Beginn des Spiels. Mit speziellen Sensoren lassen sich auch die biomechanischen Kräfte 
erfassen, die auf den Körper einwirken. Heute werden speziell die Spitzensportlerinnen und -sportler zu gläsernen Menschen durch die Digitalisierungsmöglichkeiten. Nur gilt es aus dieser Flut von Daten, die relevanten zu erfassen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dies ist dann unter anderen Aufgaben eine sehr wichtige für das Betreuungsteam.

Nicht alle Athletinnen und Athleten lieben diese Art ihrer Trainingssteuerung, obwohl sie sehr effizient ist. Eine der erfolgreichsten Skilangläuferinnen der Schweiz, Nathalie von Siebenthal, äusserte sich vor einigen Tagen in einem Interview zu dieser Art von Leistungsoptimierung. Als fast prototypische junge Frau aus dem Oberland zieht sie es vor, in der Natur und höchstens mit einer Pulsfrequenzuhr ausgestattet, zu trainieren anstelle mit diversen Messgeräten bestückt auf dem Laufband. Ihr Tagesablauf im Sommer beginnt im elterlichen Stall auf der Alp beim Melken und erst anschliessend begibt sie sich zum Training mit einem Berglauf auf die nächste Alp ohne diagnostische Mittel. Es tönt nach Idylle und kommt sehr sympathisch rüber. Aber auch der Spitzensport kann sich der Digitalisierung nicht mehr entziehen und die Trainingsmethoden werden dadurch immer effizienter.

Vielleicht könnte die letzte kleine Lücke zu einem Grosserfolg von Nathalie von Siebenthal durch diese neue Trainingsoptimierung geschlossen werden. Aber ob sie dadurch glücklicher würde, ist eine andere Frage. Eines aber wissen wir. Das gute Gefühl nach dem Sporttreiben bleibt immer noch analog – und das ist gut so.

Info: Walter Mengisen ist stellvertretender Direktor des Bundesamts für Sport Baspo und Präsident des SC Lyss.