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«In der Nacht rumrennen? Lieber du als ich»

Sie sind die erfolgreichsten Seeländer Sportler des Jahres: Orientierungsläuferin Simona Aebersold hat bei ihrer ersten WM-Teilnahme in sämtlichen Disziplinen eine Medaille gewonnen, Schwinger Christian Stucki hat mit dem Sieg am Eidgenössischen seine Karriere gekrönt. Im Doppelinterview blicken sie zurück und finden bei ihren unterschiedlichen Sportarten doch einige Gemeinsamkeiten.

Christian Stucki und Simona Aebersold haben vor diesem Treffen noch nie miteinander gesprochen.  Matthias Käser

Interview: Michael Lehmann, Beat Moning

Christian Stucki, im Schulsport hatten Sie sicher auch Orientierungsläufe …

Christian Stucki: … und ich erreichte fast immer das Podest.

Tatsächlich?

Stucki: Gelaufen bin ich zwar schon damals nicht so gerne, dafür konnte ich die Karte extrem gut lesen. Da wir immer in Zweierteams aufgeteilt wurden, habe ich ein System entwickelt: Ich ortete den Posten, und mein Teamkollege rannte. Dann wies ich ihn zum Beispiel an: Du musst 400 Meter den Weg entlang und dann links. Während er zum Posten lief, joggte ich locker hinterher und suchte auf der Karte bereits den nächsten. Dank dieser Methode gehörten wir meistens zu den Besten. Daher habe ich eigentlich sehr gute Erinnerungen an den Schul-OL. (Lacht)

Nun sitzen Sie einer dreifachen WM-Medaillengewinnerin gegenüber. Verfolgen Sie den Sport gelegentlich?

Stucki: Ich habe hin und wieder etwas aus den Medien über Simonas Erfolge erfahren. Aber da die Medienpräsenz im OL halt klein ist, stolpere auch ich eher selten darüber.

Simona Aebersold, Sie nicken.

Simona Aebersold: Wir Orientierungsläufer sind uns dem eher geringen Medieninteresse bewusst. Allerdings finde ich das gar nicht so schlimm. Was passiert, wenn man den Sport unbedingt bekannter machen will, hat man zuletzt in China gesehen.

Sie sprechen den Weltcup an, der untersucht wird, weil chinesische Läufer überdurchschnittlich gut abgeschnitten haben.

Aebersold: Und die Militär-WM, genau. Bei beiden Veranstaltungen wird vermutet, dass die einheimischen Sportler das Gelände schon vor dem Wettkampf konsultiert haben, was im OL streng verboten ist.

Je populärer der Sport, desto grösser ist die Chance, als Profi leben zu können.

Aebersold: Ich denke, dass das auch ohne grössere Aufmerksamkeit geht; vielleicht halt nicht ganz so pompös. In China haben wir gesehen, was passiert, wenn die Leute das grosse Geld wollen. Das Fairplay, ein zentraler Faktor im OL, wird missachtet.

Stucki: Die Geschichte aus China habe ich übrigens auch mitbekommen.

Sie schwingen seit gut 27 Jahren. In dieser Zeit ist der Schwingsport enorm populär geworden. Sind Sie dem Wachstum auch kritisch eingestellt?

Stucki: Als ich 20 Jahre alt war, hätte ich nie gedacht, dass ich mit meinem Sport jemals Geld verdienen könnte. Daher war ich froh, als sich das Schwingen den Sponsoren gegenüber etwas geöffnet hat. Ich finde aber auch, dass gewisse Werte behalten werden sollten. Es ist zum Beispiel gut, dass in der Schwingarena selbst keine Werbung zu sehen ist; dafür hat es rundherum genug Platz. (Überlegt) Es hat sich schon enorm gewandelt. Gerade das Eidgenössische ist mittlerweile ein kommerzieller Anlass. Es sitzen nicht mehr die alten Männer mit dem Filzhut in den Zuschauerreihen, es ist Rambazamba.

Simona Aebersold, waren Sie schon mal an einem Schwingfest?

Aebersold: Ich war noch nie live vor Ort, aber ich habe es auch schon im Fernsehen verfolgt.

Das Interesse scheint eher begrenzt.

Aebersold: Unsere Sportarten haben halt eher wenig gemeinsam. Aber wenn ich dann die Bilder sehe, bin ich schon beeindruckt und bleibe hängen.

Stucki: Das geht mir beim OL gleich. Aber leider sind Übertragungen im Fernsehen eher selten. Das liegt wohl daran, dass es nicht so einfach zu filmen ist. Allerdings habe ich zuletzt gesehen, dass ihr mit einem GPS ausgestattet seid. Dann kann man verfolgen, wie die Pünktchen auf der Karte herumflitzen. Das fand ich sehr spannend.

Beides sind Einzelsportarten. Muss man ein Egoist sein, um in Ihren Sportarten erfolgreich zu sein?

Aebersold: Das ist sicher bis zu einem gewissen Grad der Fall. Ich verfolge jeweils ein klares Ziel und ordne dem alles unter. Andere müssen da zurückstecken.

Stucki: Jeder Sportler ist auf eine Art ein Egoist. Es ist deine Passion und es ist dein Weg. Man kann es nie allen recht machen.

Wie meinen Sie das?

Stucki: Neben dem Sport möchte ich zum Beispiel auch Zeit für meine Frau und meine Kinder haben. Da braucht es manchmal schlicht ein Nein. Sonst bist du hier gefragt, dort gefragt und du oder deine Familie bleiben auf der Strecke. Kennst du das auch?

Aebersold: Natürlich. Letzthin wollte ich mich mit Kollegen treffen, mit denen ich das Gymnasium besucht habe. Wir haben aber einfach keinen Termin gefunden. Und als ich dann sagen musste, dass ich erst wieder in ein paar Wochen verfügbar bin, habe ich mich schon schlecht gefühlt. Aber das gehört einfach dazu.

Gibt es Freunde, die Sie regelmässig treffen?

Stucki: Sicher. Aber es ist halt eben schon so, wie man sagt: Die wirklich guten Freunde kannst du an einer Hand abzählen. Dann gibt es noch weitere Kollegen, die man regelmässig trifft, einfach, weil es sich gerade so ergibt. Der ganze Rest kommt wohl etwas zu kurz. Bei einigen meiner Freundschaften von früher ist der Sport in die Quere gekommen. Da ging ich halt am Abend noch in den Schwingkeller statt ins Pub.

Aebersold: Dem stimme ich zu.

Sie sitzen nun einer 21-jährigen Nachwuchssportlerin gegenüber. Kommen da Erinnerungen an Ihren Karrierebeginn hoch?

Stucki: Das war eine schöne Zeit. (Lacht) Ich kann mich erinnern, dass ich schon immer als Spezialfall galt. Damals wurde mir zum Beispiel nachgesagt, ich sei trainingsfaul. Und ja, der Fleissigste war ich sicher nie. Aber ich habe dennoch meinen Weg gemacht. Er war nicht immer gradlinig, manchmal bin ich links, manchmal bin ich rechts abgebogen. Wenn ich mich zum Beispiel in Japan mit Sumo-Ringern ausgetauscht oder im Senegal bei einem Ritual mitgemacht habe, haben einige Leute den Kopf geschüttelt. (Macht eine Pause) Ich habe dem Sport viel untergeordnet, wollte aber auch ein Leben daneben haben. Sportwissenschaftler würden wohl sagen, dass ich früher mehr hätte investieren sollen. Aber es ist ja gut herausgekommen.

Sie haben das Eidgenössische gewonnen und sind nun Schwingerkönig.

Stucki: Der Zeitpunkt hätte kaum besser sein können. Hätte ich drei Jahre früher gewonnen, wäre es familientechnisch ziemlich kompliziert geworden. Schliesslich war da der Jüngere noch ganz frisch auf der Welt. So konnte ich mich wirklich drei Jahre ganz auf mein Ziel fokussieren.

Simona Aebersold, werden Sie mit fast 35 Jahren noch Orientierungsläufe bestreiten?

Aebersold: Ganz sicher. Ich weiss noch nicht, auf welchem Niveau, aber laufen werde ich bestimmt noch. Wahrscheinlich sogar bis ans Ende meines Lebens. Die meisten Orientierungsläufer bleiben dem Sport auch nach der Elite-Karriere treu.

Christian Stucki hat mit dem Schwingerkönig den höchsten Titel gewonnen, den es im Schwingen gibt. Was ist das Äquivalent im OL?

Aebersold: Das wäre dann wohl die Weltmeisterschaft. Jeder Orientierungsläufer träumt davon, WM-Gold zu gewinnen. Am höchsten wird dabei die Langdistanz gewichtet, sie gilt als Königsdisziplin.

Bei Ihrem Einstand scheint es nur eine Frage der Zeit, bis Sie erstmals WM-Gold gewinnen.

Aebersold: In meinem Kopf geistert das Jahr 2023 herum, wenn die Weltmeisterschaft in der Schweiz stattfindet. Auf sie werde ich mich intensiv vorbereiten. Dann werde ich (überlegt) 25 Jahre alt sein ...

Stucki: Also wirst du voll im Saft sein.

Aebersold: Ich hoffe es.

Sie haben erfolgreich auf ein grosses Ziel hingearbeitet. Welche Erfahrungen können Sie Simona Aebersold mitgeben?

Stucki: Du musst einfach konsequent dran bleiben.

Aebersold: Ich denke auch, dass Disziplin eine wichtige Rolle spielt.

Stucki: Es braucht eine gute Mischung. Man sollte auch nicht zu verbissen sein. Wenn du dir immer wieder sagst, dass du dort gewinnen musst, machst du dir selber nur unnötig Druck. Hinzu kommen die Erwartungen von aussen, und irgendwann zerbrichst du daran.

Moment mal. Sie haben im Vorfeld des Eidgenössischen doch genau das Gegenteil gemacht, indem sie immer wieder sagten, das sei nun Ihre letzte Chance?

Stucki: Das stimmt natürlich. Aber es war jedoch bereits mein siebtes Eidgenössisches. Ich bin schon mehrmals vor einem riesigen Publikum im Einsatz gestanden und wusste, wie der Karren läuft. Bei mir war ja eher der Fall, dass der Traum schon ein bisschen am davonfliegen war.

Nach dem sechsten Gang?

Stucki: Genau. Da musste ich mich aus diesem mentalen Loch herauskämpfen. Ich musste meinen inneren Schweinehund besiegen, der sagte: Das wars. Das kennst du sicher auch. Ich bin mir sicher, dass bei einer Langdistanz irgendwann die Beine enorm brennen.

Aebersold: Und wie. (Lacht)

Stucki: Am Schluss gehört einfach auch das nötige Wettkampfglück dazu. Vielleicht kannst du es ein wenig auf deine Seite zwingen, aber zu verbissen solltest du dennoch nicht sein. Am Schluss bist du auch nur ein Mensch und keine Maschine.

Aebersold: Wichtig ist auch, Spass zu haben. Ohne das geht sowieso nichts, wenn du auf hohem Niveau Sport betreibst.

Mit ein bisschen mehr Wettkampfglück über die Mitteldistanz hätten Sie bereits in diesem Jahr Ihre erste WM-Goldmedaille geholt.

Aebersold: Den fünf Sekunden, die mir auf Tove (Alexandersson, die Red.) fehlten, trauere ich in diesem Jahr nicht nach. Vielleicht wäre es etwas anderes gewesen, wenn es mein grosser Traum gewesen wäre, an dieser WM Gold zu holen. Ich hätte ja nie gedacht, dass ich von meiner ersten WM mit zwei Einzel- und einer Staffelmedaille zurückkehre. Im Vorfeld habe ich gesagt, dass ein Diplomrang schön wäre. Danach war mir bereits etwas unwohl, weil ich dachte, ein zu hohes Ziel formuliert zu haben.

Christian Stucki, Sie waren schon vor dem Eidgenössischen populär. Was ist seither passiert?

Stucki: Einiges. Stellt euch vor, im November wurde ich sogar in Zürich an der Bahnhofstrasse angesprochen. So weit ist es schon (lacht). Es ist schön, so viele positive Rückmeldungen zu bekommen. Nicht immer reagiere ich gleich souverän darauf, wenn man mich anspricht; das hängt ein bisschen von der Tagesform ab. Wenn ich mit der Familie unterwegs bin und kaum mehr vorwärtskomme, finde ich es weniger toll. Sich in der Masse zu verstecken, fällt mir wohl etwas schwerer als dir.

Aebersold: (Lacht) Ja, dieses Problem habe ich zum Glück nicht.

Aber auch Sie sind nach Ihren Erfolgen deutlich mehr in der Öffentlichkeit gestanden.

Aebersold: Das stimmt. In den letzten Monaten hatte ich doch den einen oder anderen Medientermin mehr, als ich mir das bisher gewohnt war. Und seit der Ehrung in Brügg sprechen mich manchmal Kinder an, die dort dabei waren. Aber ich denke, dass mich ausserhalb von Brügg kaum jemand erkennt.

Sie beide sind ja mit Gratulationen überhäuft worden. Gibt es eine, die herausgestochen ist?

(beide überlegen) Stucki: Schwierig zu sagen.

Aebersold: Ich freue mich über jede Gratulation. Mega schön fand ich die Zeichnungen, die Kinder für mich gemalt haben.

Stucki: Stimmt. Ich habe eine Zeichnung von einem Dreijährigen erhalten, der mich mit dem Sieger-Muni abgebildet hat. Das war amüsant und herzig.

Neben den Ehrungen geht auch das Sportliche weiter. Training im Winter: Eine Pflichtaufgabe oder auch etwas Schönes?

Aebersold: Ich freue mich darauf. (Stucki verzieht die Miene) Du nicht?

Stucki: In deiner Situation ist es sicher etwas anderes. Ich bin nun seit 27 Jahren im Sägemehl und irgendwann … Ich sage es mal so: An gewissen Abenden wäre ich lieber bei der Familie daheim als im Schwingkeller.

Aebersold: Das Einzige, was ich nicht so gerne habe, ist die Kälte.

Stucki: Das glaube ich dir, ihr könnt ja kaum bloss in einer Halle herumrennen. Hast du dann tagsüber Training?

Aebersold: Nicht immer. Einmal wöchentlich haben wir ein Nacht-Training, bei dem wir mit einer Stirnlampe draussen trainieren.

Stucki: Wow, lieber du als ich. Aber da kannst du nicht die gleiche «Pace» laufen wie bei Tageslicht?

Aebersold: Nicht ganz, aber ich komme relativ nahe heran. Viel langsamer bin ich nicht.

Dafür dürften die Bäume und Sträucher noch mehr Kratzer hinterlassen?

Aebersold: Das stimmt. Die Orientierung ist in der Nacht viel schwieriger. Da die Karten nicht hundertprozentig genau sind, läufst du plötzlich durch ein Dornengebüsch, während nur drei Meter rechts der Weg eben gewesen wäre. Aber den hast du in der Nacht halt nicht gesehen.

Sportler werden oft verglichen. Bei Simona Aebersold fällt immer wieder der Name Simone Niggli. Sie hat 23 WM-Goldmedaillen gewonnen …

Stucki: ... Bei mir gibt es keine Vergleiche. (Lacht)

Nun, Jörg Abderhalden hat mal gesagt, Sie hätten auch schon drei Königstitel gewinnen können. Die ursprüngliche Frage war jedoch: Wie nehmen Sie diese Vergleiche wahr?

Stucki: Ich nehme sie zur Kenntnis. Drei Königstitel hole ich wohl nicht mehr, aber die brauche ich auch nicht.

Aebersold: Für mich gibt es zwei Seiten. Einerseits möchte ich als eigenständige Person wahrgenommen werden, die ihren eigenen Weg geht. Auf der anderen Seite ist es schön, mit jemanden verglichen zu werden, der so erfolgreich war. Das spornt auch an.

Wir stehen kurz vor dem Jahreswechsel. Wie schwierig ist es, ins neue Jahr zu starten, im Wissen, dass sich das alte kaum übertrumpfen lässt?

Stucki: Es wird sicher nicht einfach, wenn dich jeder unbedingt bodigen möchte. Und trotzdem ändert sich für mich nicht viel. Ich war auch schon nach den Siegen am Kilchberger- und am Unspunnen-Schwinget der Gejagte. Es gilt einfach, sich vor jedem Fest so gut wie möglich vorzubereiten, sodass du am Schluss nicht wie ein Schulbub dastehst.

Aebersold: Auch für mich wird es nicht einfacher. In diesem Jahr genoss ich den Bonus, zum ersten Mal bei der Elite zu starten. Nun wird erwartet, dass ich um die Medaillen mitlaufe. Aber das habe ich mir sozusagen selber eingebrockt. Ein wenig bin ich mit der Situation bekannt, da es bei den Junioren ebenfalls darum ging, die Erfolge zu bestätigen. Ich freue mich jedenfalls auf die neuen Herausforderungen.