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Automobil

Die virtuelle Welt ist für einmal virenfrei

Der Stillstand der Sportwelt ist eine grosse Chance für den E-Sport. Das zeigt das Rekordinteresse an 
einem Online-Rennen. Profifahrer wie Neel Jani oder Max Verstappen liefern sich von zuhause aus Positionskämpfe.

Hinter dem Bildschirm anstatt auf der Strecke: Der Seeländer Rennfahrer Neel Jani übt sich im E-Racing. Bild: zvg

Moritz Bill

Not macht erfinderisch: Das Motorsport-Portal «The Race» reagierte auf die Corona-bedingte Absage des Formel-1-Saisonstarts prompt mit einem Alternativ-Programm. Profi-Rennfahrer und Videospiel-Grössen trafen sich letzten Sonntag auf der virtuellen Strecke des Nürburgrings zum sogenannten «All-Star esports Battle». Max Verstappen oder Juan Pablo Montoya nahmen zuhause in ihrem Simulator Platz. Und auch der Seeländer Formel-E-Pilot Neel Jani sagte spontan zu und loggte sich ein. Kurzerhand lieh er sich im Bekanntenkreis das nötige technische Equipment aus.

Zeit, sich mit der neuen Materie auseinanderzusetzen, blieb Jani keine. Der Werksfahrer trainiert zwar oft im Renn-Simulator von Porsche in Zuffenhausen, doch ist dieser technisch auf einem deutliche höheren Niveau als die Modelle für den Privatgebrauch. Umso zufriedener war Jani nach dem ersten Qualifying. In der Gruppe mit ausschliesslich «echten» Rennfahrern fuhr er auf den 3. Startplatz. «Das hat mich wirklich überrascht», sagt Jani. Weniger überraschend war Verstappens Poleposition. Der 22-jährige Holländer ist mit E-Racing aufgewachsen und nimmt regelmässig an Online-Rennen teil.

«Kein Mario-Kart»

Für Jani, 36, ist die virtuelle hingegen eine neue Welt. «Im Unterschied zur echten Rennstrecke sind andere Sinne entscheidend. Du musst dich viel mehr auf die Augen verlassen, ich spürte beispielsweise überhaupt nicht, dass mir gleich das Heck ausbricht.» Der Le-Mans-Sieger von 2016 unterstreicht den anspruchsvollen Schwierigkeitsgrad. «Das hat nichts mit Gamen zu tun, wie es die meisten aus Mario Kart kennen.» Die Strafen und Ausschlüsse werden strikt ausgesprochen, rücksichtsloses Fahren liegt nicht drin. Zudem ist auch Taktik gefragt, Jani musste im Finallauf Lehrgeld zahlen. Er hatte zu wenig Benzin im Tank und blieb in der letzten Runde stehen. Dass das letzte Rennen eine Runde länger dauert, hatte er in der Hektik der kurzfristigen Teilnahme im Reglement überlesen. Unabhängig dessen wurden im Final die Kräfteverhältnisse aufgezeigt. Die ersten sechs Plätze belegten ausschliesslich E-Sportler, der Indy-Car-Fahrer Felix Rosenqvist war dahinter der Beste der «realen» Piloten.

Für Jani ist deswegen klar: «Wer gut werden will, muss trainieren.» Deshalb, und mit der Aussicht, dass die Auswirkungen der Corona-Krise noch lange anhalten dürften, hat er sich einen eigenen Simulator bestellt. Da er wohl nicht der Einzige ist, könnte sich die Lieferung hinauszögern. So ist auch noch offen, ob er kommendes Wochenende an einem nächsten virtuellen Rennen teilnimmt.

Im Garten statt im Cockpit

Der komplette Stillstand der Sportwelt ist eine riesige Chance für E-Sport. Ausgenommen der Computerviren ist die virtuelle Welt virenfrei. Das «All-Star esports Battle» ging denn auch sogleich als das bisher grösste E-Racing-Event in die Geschichte ein. Über eine halbe Million Menschen verfolgten den Live-Stream, bis gestern schauten sich mehr als 600 000 Fans das Replay an. Sonstige Game-Quoten-Hits wie «League of Legends» oder «Call of Duty» verzeichneten am Sonntag weniger Views. Hinzu kommen unzählige Klicks einzelner Clips in den Sozialen Medien. «E-Racing befand sich bereits in einer Wachstumsphase, aber angesichts der aktuellen globalen Situationen aufgrund des Coronavirus verzeichnen wir einen Boom», sagt Darren Cox, der CEO von Torque Esports, dem Mitorganisator des «All-Star esports Battle».

Die Übertragung ist einem richtigen Rennen ähnlich. Die verschiedenen Kameraperspektiven werden mit Grafiken ergänzt und natürlich mit Live-Kommentar unterlegt. Gut möglich, dass sich auch in andere Sportarten wie im Fussball bald Profis aus der realen mit solchen aus der virtuellen Welt messen und auch Fans miteinbezogen werden.

Nur noch im Simulator sitzen mag Neel Jani aber nicht. Die Pause der Formel E (siehe auch Zweittext) verschafft dem Seeländer unverhofft Zeit für anderes. «Endlich kann ich Dinge erledigen, die lange Zeit liegen geblieben sind. Ich beschäftige mich momentan viel mit Gartenarbeit.» Und um fit zu bleiben, geht Jani täglich Velofahren und hofft, dass dies auch künftig möglich bleibt.

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«Wir müssen die Pause nutzen» – doch wie lange dauert diese?

Die Formel E hat vergangenen Freitag die Saison für mindestens zwei Monate unterbrochen. Die Rennen in Paris (18. April), Seoul (3. Mai) und Jakarta (6. Juni) sind ohne Nachholtermin gestrichen worden. Zuvor hatte bereits das für den 4. April angesetzte Rom-Rennen abgesagt werden müssen. Zusammen mit dem Sanya E-Prix fallen mindestens fünf Rennen der Saison 2019/20 der Coronavirus-Pandemie zum Opfer.

Das nächste Rennwochenende würde am 21. Juni in Berlin ausgetragen werden. Neben der Veranstaltung in der deutschen Bundeshauptstadt, die von einem auf zwei Rennen ausgeweitet werden könnte, folgen die Rennen in New York am 11. Juli sowie das Saisonfinale in London mit zwei Rennen am 25. und 26. Juli. Auch New York könnte zu einem Doppel-Rennen aufgewertet werden. Demnach würde die Formel E in ihrer sechsten Saison neben den fünf bereits erfolgten Rennen (Saudi-Arabien, Santiago de Chile, Mexiko, Marrakesch) mindestens fünf weitere E-Prix austragen. Laut Reglement müssen sechs Rennen gefahren werden, um die Saison als vollwertige Meisterschaft anzuerkennen.

«Wir müssen die Pause nutzen. Wir haben jetzt Zeit, viele Dinge zu analysieren», sagt Porsche-Fahrer Neel Jani. Sein Fahrzeug soll ein neues Chassis erhalten, zudem wollen die Ingenieure die Probleme beim Bremsen in den Griff bekommen. Doch für sie gilt, was für viele derzeit gilt: Sie arbeiten im Homeoffice. Bis Ende April erfolgen sicher keine Tests auf der Rennstrecke. Ob die Saison überhaupt zu Ende gefahren werden kann, ist ungewiss. «Wir müssen abwarten, ich schätze die Chancen auf 50:50 ein», sagt Jani. Denn auch wenn die Reiseverbote in ein paar Monaten gelockert werden sollten, bleibt ein Motorsport-Zirkus mit Teams aus allen Herren Länder ein Gefahrenherd. Und die Folgen der Corona-Krise könnten auch die Formel E langfristig vor grosse Probleme stellen. Je nach wirtschaftlichen Auswirkungen ist der Verbleib der Grosssponsoren fraglich, was die noch junge Rennserie hart treffen würde. bil

Stichwörter: E-Sports, Rennfahrer, Neel Jani