Sie sind hier

Abo

Schiessen

«Ich beginne erst jetzt zu realisieren, was ich erreicht habe»

Anja Senti ist mit drei Medaillen im Gepäck von ihrer ersten EM zurückgekehrt. Lange ausruhen kann sich die Bellmunderin nicht, denn ab heute schiesst sie am Europacup in Zagreb.

Anja Senti übertrifft bei ihrer ersten EM-Teilnahme alle Erwartungen: Die 24-jährige Sportschützin aus Bellmund gewinnt im kroatischen Osijek zwei Silber- sowie eine Bronzemedaille. Bild: zvg

Interview: Francisco Rodríguez

Anja Senti, Hand aufs Herz, hätten sie bei Ihrer ersten EM-Teilnahme gleich mit einem solchen Erfolg gerechnet?

Anja Senti: Nein, ich hatte gedacht, vielleicht könnte ich eine Medaille holen, aber sicher nicht gleich drei.

Was bedeuten Ihnen die ersten drei EM-Medaillen in ihrer Karriere?

Ich beginne erst jetzt zu realisieren, was ich erreicht habe. Ich bin stolz darauf und glücklich. Während der EM war ich nach einem Wettkampf sofort wieder auf meinen nächsten Einsatz fokussiert und fühlte mich fast ein wenig gestresst von den vielen Glückwünschen, die ich beantworten wollte. Jetzt kann ich den Erfolg geniessen.

Bei der Silbermedaille im Mixed-Team an der Seite des Freiburgers Gilles Dufaux lieferten Sie sich einen spannenden Wettkampf auf Augenhöhe mit dem routinierten Duo Jan Lochbihler/Silvia Guignard.

Ich und Gilles haben im Team sehr gut harmoniert. Er hat viel Erfahrung und mich beim Schiessen gecoacht. Das hat mir sehr geholfen, um mich auf meinen Wettkampf zu konzentrieren. Ich realisierte gar nicht, dass wir in Führung lagen. Ich war so nervös und hatte bewusst die Resultate nicht mitverfolgt. Als ich dann am Ende der Qualifikation auf die Anzeigetafel blickte und die vier Schweizer Kreuze oben erspähte, freute ich mich riesig. Ich sah einzig die Punktzahl und meinte zu Gilles, wir lägen nur einen Punkt hinter Silvia und Jan. Er lachte und klärte mich auf, dass wir die Führenden seien und nicht sie, was mich unheimlich stolz machte. An dieser Medaille habe ich am meisten Freude.

Fast wäre sie im Final vergoldet worden.

Silber war für mich schon «top of the top». Ich wusste, dass es gegen Silvia und Jan im Final schwierig würde, denn sie waren die Favoriten und wir das zweite Schweizer Team. Wir haben alle sehr gut geschossen und der Finalwettkampf ging letztlich für uns nur sehr knapp verloren. Gilles und ich haben unser Bestes abliefern können und uns die Medaille absolut verdient.

Was war aus ihrer Sicht entscheidend für Ihr starkes Abschneiden in Osijek?

Das Mentaltraining. In unseren Vorbereitungen haben wir fünf Wochen vor der EM verstärkt damit begonnen. Ich habe mir meine Schwächen notiert, worauf ich gemeinsam mit meiner Mentaltrainerin Stéphanie Müller ein Problem ums andere angegangen bin und wir es gelöst haben. Am Ende konnte ich befreit an die EM reisen. Ich war dennoch nervös. Es gab Momente, in denen meine Hand zitterte. Sogleich die richtigen Gedanken zu finden und sich zu sagen, es ist alles gut und ich kann es, hat mir enorm geholfen.

Welche Reaktionen hat Ihr dreifacher Medaillengewinn in Ihrem Umfeld ausgelöst?

Es waren so viele Leute, die mir gratuliert haben. Bei meiner Rückkehr waren der Eingangsbereich und mein Zimmer schön dekoriert. Es freut mich sehr, dass nicht nur meine Familie grossen Anteil an meinen Erfolgen nimmt, sondern ich auch in meinem Kollegenkreis und im Umfeld auf meinen Sport angesprochen werde. Die Leute interessieren sich vermehrt dafür, was ich tue, das ist schön.

Welche Türen könnten sich dadurch für Sie öffnen?

Ich habe sicher gezeigt, dass ich an solchen Wettkämpfen mein Bestes abliefern und die Trainingsleistungen umsetzen kann. Das ist ein wichtiges Zeichen für die Trainer und den Verband, die erkannt haben, dass sie auf mich setzen und mich an die grossen Wettkämpfe mitnehmen können. Ich habe mir mit meinen Leistungen einen Startplatz für die Europacupanlässe gesichert. Nächstes Jahr stehen die Weltmeisterschaften an, für die ich mich qualifizieren will.

In der Schweiz lässt es sich auch als internationale Topschützin kaum vom Schiesssport leben. Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?

Nächsten Frühling möchte ich die Spitzensport-RS machen und nach Ende meines Studiums bis dahin Teilzeit arbeiten. So habe ich genug Zeit für das Schiessen. Sollte ich nicht zur Spitzensport-RS zugelassen werden, absolviere ich die Rekrutenschule als qualifizierte Athletin. Ich möchte künftig von den WK-Tagen profitieren können, um Trainingslager und Wettkämpfe zu machen. Das wäre für mich sehr attraktiv.

Sie rechnen für das Schiessen mit einem Jahresbudget von 16 330 Franken. Werden sich mit drei EM-Medaillen im Portfolio vermehrt Sponsoren akquirieren lassen?

Das hoffe ich, weiss aber auch, dass es in unserer Randsportart immer schwierig ist, Sponsoren zu finden. Aber die drei EM-Medaillen sind auf alle Fälle ein gutes Argument, denn man wird jeweils gefragt, ob man schon international unterwegs sei.

Im Unterschied zum Leistungssport sind die Schützinnen im Breitensport deutlich in der Minderheit. Wie gehen Sie als Frau in einer Männerdomäne um?

Ich bin mir nichts anderes gewohnt, ich bin damit aufgewachsen. Schiessen war für mich immer eine Männersportart gewesen, oder zumindest hatte man mir das so gezeigt. Umso erstaunter war ich darüber, dass so viele Frauen auf Leistungssportebene schiessen. In unserem regionalen Leistungszentrum hat es nur zwei Männer, dafür aber zehn Frauen.

Dann muss es speziell sein, wenn sie zurück bei den Feldschützen sind.

Das geniesse ich. Als ich mit den Medaillen bei meinem Verein in Merzligen vorbeigeschaut habe, wurde ich sofort herzlich begrüsst und beglückwünscht. Wir sind eine grosse Familie. Dass diese aus deutlich mehr Männern besteht, spielt letztlich überhaupt keine Rolle. Alle sind sehr stolz auf mich und darauf, dass mit mir auch der Name der Feldschützen Merzligen in den Medien erscheint.

Beim EM-Debüt haben Sie alle Erwartungen übertroffen. Wann dürfen Sie Ihren ersten EM-Titel feiern?

Dieser ist nun natürlich zu einem Thema geworden. Nächstes Jahr sind zunächst die Weltmeisterschaften an der Reihe und ich werde alles dafür tun, um auch dort dabei sein zu können und mal zu schauen, was da alles möglich ist.

Die 300 m sind keine olympische Disziplin. Würde Sie ein Olympia-Projekt reizen?

Den Olympia-Traum haben wohl alle, ausser die Schwinger. Man muss sich die Ziele hoch setzen – und die Europameisterschaften waren für mich ein sehr hohes. Sollte ich mal ein Olympia-Projekt in Angriff nehmen, müsste ich mich aber voll darauf konzentrieren und könnte daneben nicht mehr arbeiten. Zunächst will ich mich an das Leben als Teilzeitsportlerin gewöhnen und dann schauen, wie es in der Rekrutenschule läuft. Danach wird es eine neue Standortbestimmung geben bezüglich meiner Chancen für eine Qualifikation in den Olympischen Disziplinen. Ich nehme Schritt für Schritt.

Was haben Sie sich für den Europacupwettkampf in Zagreb vorgenommen (Senti steht dort heute erstmals im Einsatz, die Red.)?

Ich merke, wie meine Batterien nach der EM leer sind. Zuhause konnte ich noch nicht richtig abschalten, denn ich musste mich um meine Schularbeit kümmern. Die grosse Herausforderung in den nächsten fünf Wochen wird für mich sein, alles zu schaffen, denn neben dem Schiessen will ich mein Studium erfolgreich abschliessen. Ich bin nun gespannt, ob ich trotz Müdigkeit auch in Zagreb wie zuletzt an der EM meine Leistung werde abrufen können.

 

*******************************

Zur Person

  • Name: Anja Senti
  • Geboren am 28. September 1996, wohnhaft in Bellmund
  • Architekturstudium Berner Fachhochschule Burgdorf
  • Schützenvereine: FS Merzligen/300 m, Sportschützen Biel-Aegerten/50 m, ASG Aegerten/10 m
  • Grösste Erfolge: 2021 dreifache Medaillengewinnerin 300 m an den Europameisterschaften in Osijek/Kroatien mit Bronze im Einzel sowie zweimal Silber im Team Frauen und Mix Team, 2020 in Thun Schweizer Meisterin 300 m Liegend
  • Kaderstatus: Schweizer Schiesssportverband Nachwuchsförderung, Berner Kantonalkader BSSV
  • Trainer: Jan Lochbihler, Beat Grossen

fri

Stichwörter: Schiessen, EM, Sportschützin