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Olympische Spiele

Kocher ist mit sich im Reinen

Sie ist die beste Schweizer Rennrodlerin aller Zeiten: Martina Kocher hat an vier Olympischen Spielen teilgenommen. Heute wirft die gebürtige Bielerin aus der Distanz einen kritischen Blick auf Peking 2022.

Ihre letzte Olympia-Teilnahme: Rennrodlerin Martina Kocher fuhr 2018 in Pyeongchang auf den 11. Platz./Bild: Keystone

Francisco Rodríguez

Am Wochenende machte sie es sich vor dem Fernsehgerät gemütlich. «Es ist das erste Mal seit meinem Rücktritt, dass ich ein Rennen von A bis Z verfolge», sagt Martina Kocher, die bewusst Distanz zu ihrer früheren Leidenschaft gesucht hatte. Sie habe sich am Sonntag sehr über den Sieg des Deutschen Johannes Ludwig gefreut. Ein Fahrer, denn sie noch aus gemeinsamen Rodler-Zeiten gut kennt. «Er ist souverän gefahren und hat sich diesen Sieg redlich verdient.»

Über den sportlichen Aspekt hinaus hat die gebürtige Bielerin einen interessanten Einblick erhalten, wie es sich anfühlen könnte, an diesen speziellen Olympischen Spielen zu starten. «Ich war immer der Typ gewesen, der das Publikum und die Emotionen brauchte. An diesen Rennen gibt es aber kein Publikum, das einen unterstützt. Ehrlich gesagt, macht mich dieses Land nicht an.»

Am Ende der TV-Übertragung und nach allem, was sie über Peking 2022 erfahren habe, bleibe ihr die Gewissheit, alles richtig gemacht zu haben. «Ich bin zum richtigen Zeitpunkt zurückgetreten.» Noch bevor die ganze Covid-Pandemie mit all ihren weitreichenden Folgen über die Welt hereinbrach. Und noch bevor sie wegen der Vergabe der Winterspiele einen persönlichen Gewissenskonflikt hätte lösen müssen. «Ich frage mich, wieso die Olympischen Spiele an ein Land gehen, von dem bekannt ist, dass Missstände herrschen.»

Es sei ihr bewusst, dass man sich als Sportlerin auf die Teilnahme und die Wettkämpfe konzentriere, auf welche man so lange hingearbeitet habe. «Dennoch schwingt ein ungutes Gefühl mit», sagt Kocher. Ein solches habe sich bei ihr sogar anlässlich ihrer ersten Olympia-Teilnahme 2006 in Turin bemerkbar gemacht. Zumindest kurzzeitig. «Denn die Schweiz hätte sich damals den Zuschlag für die Ausrichtung der Winterspiele verdient.» Letztlich sei es aber vertretbar gewesen, diese in Italien zu organisieren.

Auch 2014 in Sotschi habe sie sich Fragen gestellt. Zum Beispiel darüber, wie nachhaltig die Olympischen Spiele für den Wintertourismus sein würden. «Sotschi wurde tatsächlich ein beliebter Skiort.» Als Kocher mit dem Team wieder mal dort war, traf sie viele Menschen und eine voll belegte Infrastruktur an.

Olympisches Diplom in Vancouver

Mit Vancouver 2010 verbindet sie schliesslich die schönsten Erinnerungen als Olympionikin. Die Leute, die Stimmung, das Diplom, alles sei toll gewesen. Der 7. Platz war ein schöner Erfolg, der grösste olympische für sie in ihren vier Teilnahmen. Rang 9 hatte sie in Turin und Sotschi herausgefahren. Vor vier Jahren wollte sich Kocher in Pyeongchang ihre Karriere vergolden. Als Weltmeisterin 2017 sowie zweifache Vizemeltmeisterin waren ihre Ansprüche gestiegen. Doch am Ende schaute für sie nach einem verpatzten Olympia-Lauf bloss der 11. Rang heraus. Ein halbes Jahr liess sie sich noch Zeit mit ihrem Rücktrittsentscheid, führte dabei unter anderem Gespräche mit Swiss-Olympic-Sportpsychologe Jörg Wetzel, habe den nötigen Abstand gewonnen – und war am Ende mit sich im Reinen.

Herausfordernde Stelle

Heute arbeitet Kocher als Lehrperson und Pädagogin in einer offenen Einrichtung für Jugendliche. Eine herausfordernde Stelle, die ihr sehr gefalle und eigentlich prädestiniert für sie sei. «Je herausfordernder die Situation, desto cooler», sagt Kocher. Die Charaktereigenschaften, die sie im Sport vorwärtsbrachten, kommen nun auch im Berufsleben voll zum Tragen. Sie sei es sich gewohnt, in heiklen Extremsituationen schnell und richtig zu entscheiden. Auf der Heimfahrt ziehe sie täglich Bilanz, überlege sich, was sie besser machen könne und schalte dann ab. «Zuhause tangiert mich die Arbeit nicht mehr.»

Sport nur noch zum Spass

Der Sport selber sei heute im Unterschied zu früher eine schöne Möglichkeit, um auf andere Gedanken zu kommen und Entspannung zu erleben. Kocher hat für sich das Tennisspielen entdeckt und geht Joggen. «Ich laufe nicht auf Zeit und trainiere einfach nach Lust und Laune.» Wobei sich je nachdem ihr früherer Ehrgeiz als Spitzensportlerin zwischendurch bemerkbar macht. «Bei einem umkämpften Ballwechsel, den ich verliere, kann ich mich schrecklich aufregen», lacht sie.

Der Übergang zur Hobbysportlerin sei ihr allerdings gut gelungen. «Ich bin sehr dankbar, dass ich keine körperlichen Beschwerden habe.» Das sei nicht selbstverständlich, wenn man während 24 Jahren wöchentlich 30 Stunden trainiere. «Ich habe in meiner Aktivzeit immer versucht, mit Köpfchen zu trainieren und Überlastungen zu vermeiden, was mir heute entgegenkommt», erzählt Kocher.

Ein, zwei Projekte im Hinterkopf

Die Rennschlitten und das ganze ausgetüftelte Material ist in der Garage eingelagert. «Vielleicht wird mal jemand davon profitieren können», sagt Kocher. Ein, zwei Projekte habe sie im Hinterkopf und könnte sich gut vorstellen, in einer beratenden Funktion der nachfolgenden Rodler-Generation ihre Erfahrung weiterzugeben. – um auch anderen den Olympia-Traum zu ermöglichen.

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