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Martina Hingis

«Mit den Sozialen Medien muss man als Sportler gezielt umgehen»

Die ehemalige Nummer 1 und mehrfache Grand-Slam-Siegerin ist zurück in Biel. Im Staff des Fed-Cup-Teams gibt sie ihre grosse Erfahrung weiter. Zuletzt machte die 39-Jährige Schlagzeilen als neue Botschafterin der Swiss Tennis Academy in Biel. Noch steckt dieses Projekt in den Kinderschuhen.

Symbolbild: Keystone

Interview: Beat Moning

Martina Hingis, das Australian Open in Melbourne gehört erst gerade der Vergangenheit an. Mit welchen Gefühlen, mit Blick auf Ihre Karriere, verfolgen Sie so ein Grand-Slam-Turnier – das sie notabene dreimal gewinnen konnten – noch?

Martina Hingis: Die Erinnerungen kommen schnell auf. Da ich weiterhin im Tennissport tätig bin, verfolge ich die Turniere und die Grand Slams sowieso sehr aufmerksam, und dies mit sehr viel Herzblut. Frauentennis ist ein schöner Sport, der mir viel gegeben hat. Ich schätze mich glücklich, weiterhin in diesem Business tätig zu sein.

Stehen Sie noch zu Unzeiten auf, um sich ein spezielles Spiel anzuschauen?

Klar, die beiden Nacht-Partien von Belinda Bencic, die ich ja in den Anfängen trainiert habe, liess ich mir nicht entgehen.

Spitzensportler, deren Erfolge schon etwas zurückliegen, sagen oft, dass es damals «ein anderer Sport» war. Sie traten insgesamt dreimal zurück. Ist das Frauentennis derart intensiver geworden, dass nur noch Powertennis zum Erfolg führt?

Die Intensität ist nicht zuletzt dem Material geschuldet, und physisch sind die Spielerinnen auch auf einem Toplevel angelangt. Vergessen wir aber nicht, dass schon vor sehr, sehr vielen Jahren die Williams-Sisters, Caprati oder Seles mit dem Powertennis begonnen haben.

Also Power forever?

Ich würde nicht behaupten, dass an der Spitze und auch auf dem Weg dorthin nur hart geschlagen wird. Es geht in die offensive Ausrichtung, ja, aber es können sich auch Spielerinnen wie Barty, Halep oder Andreescu durchsetzen, die in ihrem Spiel sehr flexibel sind und variantenreich mit Spielwitz punkten können. Es ist ein guter Mix auf dieser Tour, was das Frauentennis auch so attraktiv macht.

Wird die 15-jährige Cori Gauff neue Massstäbe setzen?

Ich finde sie im Moment noch etwas eckig. Aber klar, es fehlt die Erfahrung, und das Tennis ist noch nicht ausgereift. Was ja auch normal ist. Aber sie ist für dieses Alter eine sehr gute Athletin und sie hat ein sehr professionelles Umfeld um sich. Ein erster Aufschlag mit über 180 Kilometer pro Stunde und ein zweiter Service mit 150 sagen doch schon viel aus über die Qualität der Amerikanerin. Sie tut dem Tennissport auf jeden Fall sehr gut.

Ein Unterschied zu Ihrer Zeit sind die Kanäle der Sozialen Medien. Fluch oder Segen?

In der Tat ein Unterschied. Ich erhielt mein erstes Telefon mit 15 oder 16 Jahren. Heute gehört es zum Leben einer Zwölfjährigen. Bei Profisportlern gehören die Sozialen Medien schon in die Verträge mit den Sponsoren, müssen also mehr oder weniger regelmässig angewandt werden, um Präsenz zu markieren.

Zählt am Ende des Tages das Mass?

Die einen setzen sie oft ein, geben viel von sich preis, posten schon, kaum sind sie auf dem Platz. Andere gehen behutsam damit um. Sportler tun sicher gut daran, die Sozialen Medien gezielt einzusetzen. Letztlich ist für mich entscheidend, dass der Trainings- und Spielalltag nicht entscheidend gestört wird. Der Fokus muss auf dem sportlichen Teil bleiben und da braucht es einfach die nötige Einstellung und Professionalität dazu.

Setzen sich die Spielerinnen nicht einem zusätzlichen und unnötigen Druck aus, wenn sie ständig etwas posten?

Wenn man postet, gerade, wenn man es oft tut, muss man sich halt schon vorher gut überlegen, was man schreiben will. Die Sportler können sich da ja auch beraten lassen. Klar können die Posts Auswirkungen haben, aber jeder muss selber wissen, was für ihn am besten ist. Ein gutes Beispiel ist Roger Federer. Er gibt den Fans immer wieder etwas, ein Zückerchen, nicht zu viel und nur, was er für richtig hält. Den Rest lässt er sein.

Apropos Federer, stellt sich auch Martina 
Hingis ab und zu die Frage, wann er wohl 
zurücktreten wird?

Ich bin sicher die falsche Person, um diese schwierige Frage zu beantworten. Ich finde es wahnsinnig, was er alles erreicht hat, und dass er noch immer so motiviert ist, wie auch die Auftritte in Melbourne gezeigt haben. Er liebt halt ganz einfach den Tennissport.

Braucht es einen Prozess, um diesen Entscheid zu fällen? Oder genügt ein Spiel, um sich zu 
sagen: Das war es!

Es braucht wohl von allem etwas. Es kann auch eine Verletzung sein, wie beim ersten Mal bei mir. Ich sehe nicht in den Körper von Roger, aber im Normalfall geht einem solchen Entscheid sicher ein Prozess voraus. Die Frage bei ihm ist, welche Ziele er noch verfolgt? Er kann ja fast überall irgendwo noch einen Rekord aufstellen.

Wie war es bei Ihnen?

Generell sage ich: Als Champion musst du immer das Gefühl haben, in ein Turnier steigen zu können, das du auch gewinnen kannst. So nach dem Motto alles oder nichts. Ist dies nicht mehr der Fall, ist der Zeitpunkt gekommen. Ich war schon mit 14 auf der WTA-Tour, habe unglaublich viel gesehen und erreicht. Mit 22 kam die Verletzung, eine gewisse Übersättigung. Ich habe mich höchstens gefragt, ob ich beim ersten Comeback nicht früher wieder hätte einsteigen können.

Können Sie sich vorstellen, dass Roger Federer einst wie Sie als Tenniscoach oder Mentor in der Schweiz arbeiten wird?

Ob er das will nach einer solchen Karriere, ist eine andere Frage. Er hat ja zum Beispiel auch seine Foundation, unterstützt mit der Agentur seines Managers Spielerinnen und Spieler.

Sie setzen sich seit geraumer Zeit für das Schweizer Tennis ein.

Ich war und bin bei der Tennisschule meiner Mutter stets dem Tennis verbunden, trainiere junge Spielerinnen, zwei-, dreimal wöchentlich. Da fühle ich mich wohl in der Haut und es macht enorm viel Spass. Zumal ich jetzt auch meine Tochter mitnehmen kann. Nach dem Comeback im Fed Cup blieb ich dem Team gleich erhalten. Auch diese zeitlich beschränkte Aufgabe hat für mich einen grossen Reiz.

Wird Tochter Lia Tennisspielerin?

Gut, sie wird jetzt dann gleich ein Jahr alt. Das wird sich weisen, sie liebt auf jeden Fall schon heute das Spiel mit dem Ball.

Zurück zu Ihrem Engagement im Schweizer Tennis. Neu sind Sie Botschafterin der Swiss Tennis Academy. Mit einem Ziel, Talente aus dem Ausland, namentlich dem asiatischen Bereich, nach Biel zu bringen. Ein realistisches Unterfangen?

Ja, ich denke schon. In Europa haben wir viele auch bekannte Academys. Hier finden wir einen kleineren Rahmen vor als zum Beispiel die Nadal-Academy auf Mallorca. Ich finde aber, dass gerade in dieser Grösse intensiver gearbeitet werden kann. Es gibt auch eine Auffrischung für die eigenen Spieler und Spielerinnen, die hier in Biel trainieren.

Im Oktober wurde diese Zusammenarbeit 
öffentlich. Was hat sich seither getan?

Die Idee an sich stammt von René Stammbach, dem Verbandspräsidenten. Es gab erste Gespräche mit den Coaches vor Ort. Aber das Ganze beginnt sich erst jetzt langsam einzuspielen und bedarf noch einiger Diskussionen, zumal ein eingespieltes Team in Biel arbeitet. Sagen wir es so, das Projekt ist noch jung und frisch.

Sie selber haben das B-Trainerdiplom. Werden Sie Ihre Aktivitäten auf dem Platz verstärken?

Für das A-Diplom brauchst du dann schon sehr viel mehr Zeit, zumal sich der Aufwand nicht nur auf das Tennis beschränkt. Ich schliesse das nicht gänzlich aus, aber im Moment, wo unsere Tochter noch so jung ist, ist das kein Thema. Zudem brauche ich diese Ausbildung für meine Tätigkeiten zurzeit nicht. Ich habe meine Erfahrung und wenn mich jemand als Coach mit meinem Wissen haben möchte, dann reicht das aus. Ich bin bereit, mein Wissen weiterzugeben, und auch mal auf dem Platz zu stehen. Auch in Biel.

Sie stellten dieses Projekt anlässlich der 
WTA-Finals in China vor. Da kam auch in der Schweiz wieder einmal «rüber», wie populär Sie in Asien sind.

Deshalb wählten wir diesen Ort bewusst aus. Das hat sicher mitunter damit zu tun, dass ich mit der Inderin Sania Mirza grosse Erfolge feiern durfte. Ich hoffe schon, dass nun eine Zusammenarbeit möglich wird. René Stammbach hat entsprechende Kontakte geknüpft. Die nächsten Monate werden zeigen, was dabei herausschauen wird. Noch bin ich selber gespannt.

Man kann also davon ausgehen, dass asiatische Spielerinnen und Spieler mit dem nötigen Biss nach Biel kommen werden, eine internationale Karriere erfolgreich zu gestalten. Anders gefragt: Brauchen junge Schweizerinnen und Schweizer noch mehr Selbstvertrauen, mehr Mentalität, alles auf eine Karte zu setzen?

Einen nicht unwesentlichen Unterschied gibt es schon. Wir haben nicht die gleiche Breite wie anderswo und oft dann auch noch eine Alternative, möchten die Schule nicht vernachlässigen, möchten einen Abschluss. Das gilt es zu respektieren. Aber jene Talente, die wir in der Schweiz haben, müssten früh auf den Sport setzen, damit man diesen internationalen Anschluss halten kann.

Was dann auch nur wenige schaffen.

In der Schweiz die Beste oder Beste zu sein, heisst nicht, international zu den Besten zu gehören. Bist du aber in Tschechien oder Russland der Beste, dann hast du Gewissheit, auch international Top werden zu können. Alles oder nichts, dazu ist man in der Schweiz eben nur bedingt bereit. Nur mal schauen, geht nicht. Da braucht es schon klare Ziele und die Unterstützung eines Umfeldes, das den gleichen Weg gehen will.

Können Sie sich vorstellen, eines Tages eine Spitzenspielerin auf Tournee zu begleiten?

Was bedeuten würde, wieder mehrere Wochen im Jahr auf der ganzen Welt unterwegs zu sein.
Nein, das ist keine Option, mit einer Familie sowieso nicht. Aber ich gehe auch mal an Turniere, war an den Nachwuchs-Schweizer-Meisterschaften in Kriens. Da hatten wir mit Jsabella Kellenberger ein U14-Mädchen, das über die Qualifikation bis in den Halbfinal kam. Das sehe ich mir dann schon an und mache mir ein Bild davon.

Aktuell stehen Sie als Assistenzcoach mit einem ganzen Team vor der Aufgabe, die Schweiz ins Finalturnier in Budapest zu bringen. Wie ist Ihre Einschätzung?

Es ist eine machbare Aufgabe, wobei man die 17-jährige Fernandez und Bouchard keineswegs unterschätzen darf (das Interview wurde am Donnerstag vor Bekanntgabe der Bouchard-Verletzung geführt, die Red.). Andreescus Ausfall hilft sicher auch.

Was sagen Sie zur neuen Formel mit zwölf Teams, die Mitte April in einer Woche um den Fed-Cup-Sieg spielen?

Bei den Frauen hatten wir das schon mal. Irgendwie musste man wieder was in diese Richtung unternehmen. Jetzt ist es nicht unattraktiv, zumal viel Preisgeld ausgeschüttet wird. Es ist kompakter und der Aufwand ist kleiner. Zudem fallen die langen Reisen nach Amerika oder Australien weg. Am Ende waren immer weniger Spitzenspielerinnen dazu bereit, weil sich die Prioritäten mit den vielen Turnieren, dem Aufbau und der Regeneration verschieben.

Wie beschreiben Sie Ihre Rolle im Team?

Ich bin für die Spielerinnen da und denke, dass sie meinen Analysen dank der Erfahrung vertrauen. Ich gebe Tipps, spreche über Taktik und Strategie. Berate sie in dem Sinn. Hauptsächlich Belinda Bencic, die ich etwas besser aus früheren Zeiten kenne als die anderen. Aber ich bin inzwischen auch schon wieder fünf Jahre mit diesem Team unterwegs, erst aktiv, jetzt von aussen und kenne die Gepflogenheiten.

Ein Team, das gewachsen ist. Ziel bleibt der Fed-Cup-Sieg?

Darum spielt man Fed Cup. In den ersten acht Teams der Welt dabei zu sein, muss sowieso das Ziel sein. Im Fed Cup sind Spielerinnen immer wieder über sich hinausgewachsen. Wir haben eine gute Einheit, in der das möglich ist. Aktuell kann Jil Teichmann von diesem Esprit profitieren.

Einzelsportler in einem Teamwettbewerb. Das heisst oft, dass eher auf sich bezogene Spielerinnen und Spieler sich einfügen müssen. Wie heikel ist das eigentlich, wenn es darum geht, gemeinsam Erfolg zu haben?

Wenn die Stimmung, wie jetzt bei uns, gut ist, dann ist das eine schöne Woche, in der alle voneinander profitieren können. Das macht uns auch so stark, dass man aus relativ wenig ein Maximum herausholen kann.

Für Sie muss der Teamevent speziell sein. Allein aus der Tatsache heraus, dass Sie da Ihren Ehemann, denTeamarzt ist, kennengelernt haben.

Sicher, ja, aber ich habe schon früher immer gerne Fed Cup oder auch Hopman-Cup mit Roger gespielt. Zudem habe ich über Jahre Doppel gespielt, was auch stark mit dem Teamgedanken verbunden ist. Wie gesagt, diese Fed-Cup-Woche ist für mich nach wie vor eine inspirierende Woche, eine Gelegenheit, etwas weiterzugeben und zu lernen.

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Martina Hingis

  • Geboren am 30. September 1980 in Kosice/Slowakei. Verheiratet mit Harald Leemann. Eine Tochter namens Lia (einjährig am 26. Februar). Tochter der früheren Tennisspielerin Melanie Molitor und von Karol Hingis.
  • Im Einzel war Martina Hingis zwischen 1997 und 2001 209 Wochen lang Weltranglistenerste, die Jüngste, die es bis anhin auf den Thron schaffte.
  • Sie gewann fünf Grand-Slam-Turniere, dreimal das Australian Open, je einmal Wimbledon und das US Open. Dazu stand sie weitere je sieben Mal in einem Final oder Halbfinal.
  • Sie holte 38 WTA-Titel im Einzel und 42 im Doppel. 1998 gelang es ihr, mit verschiedenen Partnerinnen sämtliche Grand-Slam-Turniere im selben Jahr zu gewinnen. 548:135 Siege/Niederlagen. 1994 gab Hingis als 13-Jährige und Nummer 387 der WTA-Weltrangliste in Zürich ihr Debüt auf der Profitour.
  • Rücktritt mit 22 Jahren nach einer Verletzung, Comeback 2006 und noch einmal Vorstoss in die Top-ten (Nummer 6). Zweiter Rücktritt 2007, zweites Comeback als Doppelspielerin 2013. Auch da schaffte sie es bis zur Nummer 1 der Welt.
  • Preisgeld ca. 25 Millionen 
Dollar. bmb