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Olympische Spiele

Olympia-Fieber hat mich doch noch gepackt

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·         Mein Gemütszustand einen Tag vor dem Start der Olympischen Spiele: «Müssen die Olympischen Spiele in der aktuellen Gesundheitssituation wirklich stattfinden, gibt es keine anderen Prioritäten?»

·         Mein Gemütszustand einen Tag nach dem Start der Olympischen Spiele: «Hopp Schwiiz!»

Seit ich mich erinnern kann, ist dies das erste Mal, dass ich die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im Fernsehen verpasst habe. Bevor es losging, gab es viel Unsicherheit und Schwierigkeiten rund um die Olympischen Spiele und ehrlich gesagt, mit der aktuellen Situation der Pandemie konnte ich die Absicht, die Olympischen Spiele dieses Jahr auszutragen, kaum unterstützen. Tokyo befindet sich offiziell im Ausnahmezustand, ein Teil der japanischen Bevölkerung – so hört und liest man – ist hin- und hergerissen zwischen Wut und Resignation ab dem «Durchboxen» der Spiele. Dazu kam das aufgrund von COVID-19 verhängte Zuschauerverbot. Für mich gab es andere Prioritäten als dieses Sportfest. Denn wie man so schön sagt, ist der Sport die schönste Nebensache der Welt, aber er bleibt eine Nebensache. Hat es aktuell Platz für Nebensachen?

Als die Wettbewerbe begannen, dauerte es nicht lange, bis ich einige Medaillenentscheide live verfolgte, täglich die Zusammenfassungen schaute und im Olympia-Fieber war. Also ja! Für mich gibt es offensichtlich noch Platz für Nebensachen. Sport sei Dank!

Warum diese Meinungsänderung in so kurzer Zeit? Grund dafür ist wohl meine eigene kognitive Dissonanz 
(kurze Definition zur Erinnerung: Ein psychologischer Konflikt, der durch den Glauben an Ideen oder Werte erzeugt wird, die einander widersprechen). Es ist extrem schwierig für mich, der Aura der fünf Ringe zu widerstehen, selbst wenn ein Teil in mir Mühe damit hat, dass trotz der beschriebenen Situation ein solcher Megaevent durchgeführt wird. Ja, ich bin und bleibe ein Sportfan – aber weshalb?

Patriotismus: Ich hatte Gänsehaut, als ich die letzte Runde der drei Schweizer Mountainbikerinnen verfolgte und konnte kaum glauben, was mit diesem historischen Dreifachsieg passiert ist. Es packte mich eine Welle von patriotischem Stolz, als ich die Medaillenvergabe mit den drei Schweizer Fahnen verfolgte. Die verbindende Kraft des Sports ist unbestreitbar.

Sportsgeist: Als Mutaz Essa Barshim aus Katar und Gianmarco Tamberi aus Italien beschlossen, sich die Goldmedaille im Hochsprung zu teilen und 
darauf vor Freude aufsprangen und sich umarmten – pure Entzückung, 
die mich durchfuhr!

Exzellenz: Die imposanten Weltrekorde über 400 m Hürden der Amerikanerin Sydney McLaughlin und dem Norweger Karsten Warholm. Wenn Athletinnen und Athleten am Tag X dank fortschrittlichen Trainingsmethoden und modernem Material ihre Leistung beinahe in Perfektion abrufen können.

Unberechenbarkeit: Judoka Teddy Riner, der auf dem Weg zu seinem dritten Olympiatitel in Folge die Konkurrenz zu spüren bekam. Nachdem er jahrelang dominiert hatte, wurde er unerwartet geschlagen und konnte sich schliesslich noch über Bronze freuen.

Unter anderem sorgen diese Gründe dafür, dass mich der Bann der Olympischen Spiele wohl kaum loslassen wird. Der Sport hat tatsächlich auch in der aktuellen Situation seinen Platz. Sowohl als Plattform für aktuelle und wichtige Themen als auch als Träger und Vermittler von starken Werten und Gefühlen. Diese Aspekte werden mich auch bei den Paralympischen Spielen bis zum 5. September weiter beschäftigen.

Also lieber Sportfan, wenn es dir gleich geht wie mir: Wir müssen uns noch ein wenig gedulden, bis wir uns von unserer kognitiven Dissonanz verabschieden können.

Info: Florence Pillet ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ressort Sportökonomie der EHSM im Bundesamt für Sport und ehemalige Spitzensportlerin.

Florence Pillet