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Fussball

Schwindel mit abgezwackten Sekunden

Partner der deutschen Nationalelf wurden offenbar bei der Bandenwerbung geprellt. Mittendrin ist die Schweizer Sportvermarktungs-Agentur Infront.

Symbolbild: Pixabay

Mario Stäuble

Am 9. September 2018 sehen 25 494 Zuschauer in der Rhein-Neckar-Arena von Sinsheim einem dreisten Schwindel zu, ohne ihn zu bemerken. Die deutsche Nationalmannschaft kickt gegen Peru, ein dröges Freundschaftsspiel – die Täuschung passiert aber nicht auf dem Feld, sondern daneben, auf den Werbebanden, auf denen die Namen bekannter deutscher Marken aufleuchten: Bitburger. Commerzbank. Deutsche Post.

Vertraglich gilt: 30 Sekunden pro Einblendung. Wer aber eine Stoppuhr zur Hand nimmt, merkt, dass da etwas nicht stimmt. Bauhaus: 27, 28, 29 Sekunden. Rewe: 29 Sekunden. Telekom: 29 Sekunden. Jemand zwackt hier Milliardenkonzernen Werbesekunden ab. Vor aller Augen.

Na und, könnte man denken. Bis man die Verträge hinter den leuchtenden Slogans studiert und realisiert, dass die Bandenwerbesumme pro Spiel mehr als eine Million Franken beträgt. 180 Sekunden – sechs Einblendungen, die man zusätzlich verkaufen kann – fallen ins Gewicht. Recherchen zeigen: Der «Sekundenklau» erstreckt sich über ein Jahrzehnt, der Schaden geht in die Millionen. Wie kann das sein? Wer steckt dahinter? Und warum merkte niemand was davon?

«Zutiefst schockiert»
Erste Antworten findet man in der Schweiz, in Zug, wo in einem Bürobau beim Bahnhof der Sportvermarkter Infront Sports & Media seinen Hauptsitz hat. Das Unternehmen, seit 2015 mehrheitlich im Eigentum des chinesischen Konglomerats Wanda, kauft die Werberechte des deutschen Fussballbundes DFB und gibt sie weiter an Kunden, die sich mit dem vierfachen Weltmeister schmücken wollen.

Infronts oberster Manager heisst Philippe Blatter, er ist ein Neffe Sepp Blatters. Als Botschafter gegen aussen agierte bis Mitte 2017 die deutsche Fussballlegende Günter Netzer, in der Schweiz vielen als spröd-präziser TV-Experte des SRF bekannt. Philippe Blatter und seine Mannschaft haben den Bandenschwindel selbst öffentlich gemacht – zumindest Bruchstücke davon. In einem Communiqué vom 24. Mai schreibt Infront, man habe intern «mutmasslich betrügerische Aktivitäten» festgestellt. Eigenen Kunden habe man «weniger Werbezeit als vereinbart» ausgeliefert. Mit den überzähligen Sekunden habe ein Ex-Mitarbeiter zusätzlich Umsatz gemacht. Man glaube, dass jener Mitarbeiter den Umsatz «abgeführt» habe. «Wir sind zutiefst schockiert», so Blatter.

Der ehemalige Mitarbeiter, ein langjähriger Infront-Manager, lebt in einem Thurgauer Dorf mit Sicht auf den Untersee. Er wolle nicht mit der Presse reden, sagt er, als man bei ihm klingelt.

Für den Manager interessiert sich auch die Thurgauer Staatsanwaltschaft – und zwar schon seit März 2017. Damals ging bei den Ermittlern eine Geldwäscherei-Warnung ein, im Umfeld des Infront-Manns war ein verdächtiger Geldfluss aufgeploppt. Nun ermitteln die Staatsanwälte wegen Verdachts auf Vermögensdelikte und Urkundenfälschung gegen den Ex-Manager. Sie haben die deutsche Justiz um Rechtshilfe gebeten, wie ein Sprecher bestätigt. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Bei Infront heisst es, durch einen Hinweis der Thurgauer Justiz sei die ganze Geschichte intern erst ins Rollen gekommen.

Beim DFB, den Kunden und Infront sind seit Wochen Spezialisten damit beschäftigt, mit Stoppuhren Werbe-Einblendungen von Hunderten Spielen auszuwerten und tausende Vertragsseiten durchzuackern. Infront lässt die Wirtschaftsprüfer von PWC eine interne Untersuchung durchführen und offeriert den Konzernen Schadenersatz.

Allerdings grätscht nun der gefeuerte Manager dazwischen.

Der Gegenangriff
«Der frühere Mitarbeiter hat formelle Anschuldigungen gegen einige leitende Infront-Mitarbeiter erhoben», heisst es in einem US-Börsenprospekt der Infront-Besitzerin Wanda. Das chinesische Konglomerat will seine Sport-Sparte in den USA an die Börse bringen und muss deshalb zuhanden der US-Börsenaufsicht interne Risiken offenlegen. Der Ex-Manager ist aus Sicht von Wanda ein solches Risiko: Weil er sagt, dass es Mitwisser gab.

Dieser Vorwurf sei «unbegründet», wie die interne Untersuchung ergeben habe, heisst es in den Börsendokumenten. Es könne aber sein, dass der Ex-Manager diese oder andere Vorwürfe in Zukunft erneut vorbringe.

Zumindest scheint klar, dass der Mann nicht untätig geblieben ist. Recherchen zufolge sind beim DFB und bei Werbekunden Anwälte vorstellig geworden, die Informationen über den «Fall Infront» angeboten haben. Aus Sicht eines Angegangenen stand der gefeuerte Manager dahinter.

Gab es Mitwisser?
Im Umfeld von Kunden und DFB häufen sich nun die kritischen Fragen zur These, dass ein Einzeltäter am Werk war. Da ist erstens die Zeitleiste, die nicht zusammenpasst: Der Manager wurde im Frühling 2018 gefeuert. Der Schwindel ging bis Herbst weiter, wie das Spiel Deutschland-Peru zeigt. Warum wurde die Sache erst im Mai 2019 öffentlich?

Da ist zweitens die Frage, wie ein Einzelner in einem 1000-Personen-Betrieb die Trickserei über Jahre durchziehen konnte – ohne Mitwissen von Bandentechnikern und Buchhaltung?

Und, drittens: Warum merkte der DFB nichts, obwohl er detaillierte Dokumentationen einforderte, die bis zur «horizontalen Bewegungsgeschwindigkeit» von Laufschriften gingen?

Beim DFB jedenfalls glaubt man nicht mehr an einen Einzeltäter. Recherchen zufolge prüft der Verband, aus Infront-Verträgen auszusteigen. Generalsekretär Friedrich Curtius sagt: «Wir haben festgestellt, dass wir geschädigt wurden, haben eine externe Firma darauf angesetzt und werden uns alle möglichen Ansprüche auf Schadenersatz sehr genau anschauen.»

Und was sagt Infront selbst? Ein Sprecher verweist auf das Statement vom 24. Mai und ergänzt, man habe die internen Kontrollen verstärkt. Man kooperiere mit der Thurgauer Justiz. Und man biete den Kunden Ausgleichszahlungen an. Zahlreiche Partner hätten das Angebot angenommen, «weitere Gespräche laufen noch». Günter Netzer lässt ausrichten, er habe von den Vorwürfen erst kürzlich gehört und nichts damit zu tun.

Intern hat Infront sechs Millionen Euro zurückgestellt, um den Schaden zu decken, wie sich aus dem US-Börsenprospekt ergibt. Das Management selbst zweifelt jedoch daran, ob der Betrag reicht: «Obwohl wir glauben, dass sechs Millionen Euro angemessen sind, gibt es keine Garantie, dass die Summe am Ende nicht höher ausfällt.»