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Olympische Winterspiele 2022

Trotz Zensur: Der Drang nach Ruhm und Ehre

Vor dem Start zu den Olympischen Winterspielen in Peking: Freundlich lächeln – persönliche Kontakte nach China werden stets positiv erwidert. Inhaltlich wird es dann allerdings schwieriger. Kritische Fragen werden geschickt umgangen. Ein Austausch, der dennoch zum Erlebnis wurde.

Jakob Köllikers Arbeit mit den Chinesen fruchtete nicht - in die Nationalmannschaft schaffte es keiner der jungen Spieler. Bild: Keystone

Bernhard Rentsch

Etwas naiv, wer glaubt, mit chinesischen Sportspezialisten offen über die Entwicklungen im Land und über die bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Peking sprechen zu können. Etwas naiv, wer glaubt, dass die vorherrschende und bekannte Pressezensur das kleine «Bieler Tagblatt» nicht betrifft. Und doch hat sich es gelohnt, einen Versuch zu wagen. Während der rund dreiwöchigen Bemühungen und Kontakten konnte leicht am Lack der chinesischen Organisation gekratzt werden – auch wenn eine kritische Haltung nicht akzeptiert wurde und entsprechend auch nicht angesprochen werden konnte. Allein der persönliche Kontakt zu Hua Yongmin war es wert.

Doktorarbeit in Magglingen

Hua Yongmin? Jede und jeder in Magglingen erinnert sich offensichtlich an den jungen chinesischen Mann, der 2004/2005 während einem Jahr in der Schweiz weilte und hier an seiner Doktorarbeit schuftete. Schuften ist in diesem Zusammenhang mehr als treffend, bewies er doch den den Chinesen nachgesagten Eifer eindrücklich, indem er neben seinem Studium innert kürzester Zeit die deutsche Sprache perfekt lernte. Und auch sonst hinterliess er als stets gut gelaunter «Sonnenschein» Spuren. Die in den nachfolgenden Jahren sehr positiven Kontakte und Austausche zwischen Sportgrössen in der Schweiz und in China liefen weitgehend über Hua Yongmin, der in der Zwischenzeit in führenden Funktionen an der Sportuniversität in Peking tätig wurde. Man wollte mit Blick auf die Olympischen Winterspiele 2022 voneinander profitieren – die Idee, dass die Schweiz quasi als Geburtshelfer für den chinesischen Wintersport für die breite Masse diente, war für beide Seiten Antriebsfeder.

Doch mittlerweile sorgen unterschiedliche politische und wirtschaftliche Entwicklungen eher für Ernüchterung. Die Kontakte bestehen zwar noch, die Sache mit der Entwicklungshilfe scheint aber etwas eingeschlafen. China ist unabhängig und selbstbewusst genug, um den eigenen Weg zu gehen. Auch wenn nach wie vor ein Grossteil des Knowhow bei traditionellen Wintersportnationen «eingekauft» wird. Siegen ist gleichbedeutend mit der gesellschaftlichen Adelung und mit Reichtum. Das Scheitern hingegen kennt die chinesische Mentalität kaum. Verlierer werden entsprechend schnell fallen gelassen. Diese Tatsache wird von allen Kontakten bestätigt, auch wenn nie eine Chinesin oder ein Chinese eine solche Aussage machen und schon gar nicht die Publikation einer solchen autorisieren würde.

Livebilder aus der Küche

Der Kontakt zu Hua Yongmin also sollte die geografischen, politischen und sozialen Hürden überspringen helfen. Die Umsetzung der Idee, einen positiven und gleichzeitig kritischen eigenen Fokus vor dem Start des Grossanlasses zu setzen, startete sehr vielversprechend. Yongmin sagte sofort zu.

Spannend, abwechslungsreich und interessant, quasi jedes Mal ein Abenteuer, waren in der Folge mehrere persönliche Kontakte. Immer, wenn auf dem Display +86 und eine lange Nummer aufleuchtete, war China dran – und weil solche Anrufe nicht alltäglich sind, musste es immer Hua Yongmin sein. Er meldete sich wie erwartet stets gut gelaunt und nach wie vor im perfekten Deutsch. Sich nach wenigen Sekunden Kontaktaufnahme via Facetime persönlich gegenüber zu stehen und sich zu sehen, war hilfreich. Auch die sieben Stunden Zeitunterschied waren nie ein Problem – ausser, dass wir meistens in Chinas Feierabend platzten. War Yongmin bei der ersten Kontaktaufnahme in roter Küchenschürze zu Hause beim Zubereiten des Abendessens zu beobachten, kamen später Livebilder der verschneiten Umgebung oder spielerische Aktivitäten der dreijährigen Tochter dazu. Es sei hier verraten: Malende Kinder treffen auch in China nicht immer nur das Papier. Die farbigen Unterarme der Kleinen waren Beweis genug.

Kritisches bleibt tabu

Die Leichtigkeit des Austauschs wurde in der Folge aber rasch von ernst zu nehmenden Bedenken chinaseits getrübt. Ein eigentliches Interview dürfe es nicht sein, es sollen zudem weitere Spezialistinnen und Spezialisten am Roundtable teilnehmen und – ganz entscheidend – Kritisches über die Olympischen Spiele müsse ein Tabu bleiben. Erste Zweifel über die Realisierbarkeit kamen auf. Doch nein, da ist doch wohl trotzdem etwas Neues zu erfahren und alleine die Umsetzung ist die Story.

Den Check, wo auch immer in China, überstand der Schweizer Journalist scheinbar problemlos. In welchen Verzeichnissen und Datenbanken nun allerdings die vielen persönlichen Angaben lagern, bleibt ungewiss. Eine Staatsgefahr scheinen das BT und dessen Sportredaktion jedenfalls nicht zu sein.

US-Software als Hürde

Hua Yongmin hatte rasch eine spannende Gesprächsrunde zusammengestellt. Seine Kompetenzen aus der Ausbildung wurden durch Vertreterinnen und Vertreter aus der Sportwirtschaft und aus der Sportpolitik ergänzt. Welch illustre Runde! Der nächste Dämpfer relativierte die Freude rasch wieder: Aus China kam das Verbot, die Teilnehmenden mit Namen zu nennen oder Zitate von ihnen in der Berichterstattung zu verwenden. An sich ein journalistisches No-go. Trotzdem, mit Blick auf die speziellen Umstände, fiel in Absprache mit der Chefredaktion der Entscheid zur Umsetzung.

Ein Zoom-Call sollte es dann sein. Aber oha: Nicht mit jedem Gerät in China ist eine Verbindung zum amerikanischen Video-Kommunikations-Spezialisten möglich und erlaubt. Auf Umwegen waren aber letztlich nach einer knappen Viertelstunde alle dabei – bei uns etwas gar früh, in China mitten am Nachmittag.

Das gut einstündige Gespräch, in englisch geführt, drehte sich um Wintersport-Förderung und um die Ausbildungssituation in China (siehe Text rechts). Der Unternehmer in der Runde – dem Vernehmen nach einer der Grosslieferanten in der boomenden chinesischen Sportartikelbranche – meldete sich selten. Und wenn, dann vorwiegend via seine Mitarbeiterin. Die Fremdsprache war für ihn ein zu grosses Hindernis. Nicht aber die Olympischen Spiele, die für ihn zur Goldgrube wurden und logischerweise keinerlei Makel an sich haben. Allerdings: Irgendwelcher wirtschaftlicher Glanz in Form von Prunk oder Überheblichkeit ist nicht festzustellen.

Künftig in allen Disziplinen?

Womit wir dann trotzdem automatisch bei Peking 2022 waren. Die internationalen Kritiken auslassend gingen die folgenden Fragen in Richtung Sportarten, in denen sich die Einsteigernation China Medaillenchancen ausrechnet. Der Nationalstolz war geweckt. Der Reiz, über Ruhm und Ehre zu sprechen, liess die Barrieren kurz verschwinden. Die potenziellen Medaillenanwärterinnen und Medaillenanwärter wurden aufgelistet. Die Frage nach dem Stand in komplexeren Disziplinen wie Ski alpin oder Eishockey wurden dagegen elegant überlächelt. Da sei man halt noch nicht ganz soweit – aber abwarten.

Ob Letzteres als Hoffnung formuliert wurde oder von uns als klassische Wintersportnation als Drohung aufzufassen ist, muss offenbleiben. Ein kurzer einstündiger Austausch kann kaum helfen, die komplett andere Kultur zu verstehen. Der Perspektivenwechsel hilft, einiges zu verstehen. Einiges – nicht alles.

 

15 Goldmedaillen für China – die Wette gilt

Chinas Anschluss an die Weltspitze ist auch im Wintersport ein wichtiges Ziel. Experten in Peking erklären, warum dieses noch nicht erreicht ist.

Bernhard Rentsch

Zuvorkommend, höflich und offen – so zeigen sich die chinesischen Gesprächspartner in über 8000 Kilometern Entfernung. Das Videogespräch ist so angesetzt, dass selbst bei sieben Stunden Zeitverschiebung nach Peking keine Seite einen nächtlichen Einsatz leisten muss.

Ziel: 300 Millionen Wintersportler

Aber nein, Olympia ist tabu – umso eifriger geben die Spezialistinnen und Spezialisten um Hua Yongmin, Professor an der Sportuniversität von Peking, zum Thema Wintersport Auskunft.

300 Millionen Chinesinnen und Chinesen wollte man einst auch dank internationalen Grossanlässen auf die Pisten, Loipen oder auf Eisflächen bringen. Und man sei auf guten Wegen: «Natürlich geht das nicht von einem Tag auf den andern, zumal ein Grossteil der Bevölkerung noch gar nie mit Wintersport konfrontiert war und noch nie Gelegenheit zum Ausprobieren hatte.» Mit natürlichen und künstlichen Infrastrukturen arbeite man in China aber intensiv am ehrgeizigen Ziel.

Und wirklich: Jede bauliche Gelegenheit wird genutzt, die winterlichen Voraussetzungen erreichbar zu machen. So sind Eisbahnen oder gar Indoorpisten in grossen Shoppingcentern keine Seltenheit.

Olympia-Zusage als Startsignal

Das Argument «nicht von einem Tag auf der andern» gilt auch für die Erfassung und Förderung von Talenten, die dann sachte über viele Jahre an die Weltspitze herangeführt werden sollen. Nicht so in China, wo die vor sieben Jahren zugesprochenen Winterspiele zur Devise führte, dass man auch in Wintersportarten zu den Besten zählen will – und zwar in allen Disziplinen.

Wie das in einem Land ohne Wintersport-Traditionen? Wie das in einem Umfeld, das nicht vom Investitionsvorsprung von mehreren Generationen in den Alpennationen geprägt ist? Und wie das bei weitgehend fehlenden Infrastrukturen?

Sportanlagen können neu geplant und innert kürzester Zeit realisiert werden. Das wurde und wird gemacht. Etwas schwieriger ist die Talenterfassung – trotz dem schier unendlichen Reservoir von rund 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohnern.

Dass es nicht so einfach ist, die eigenen Talente in bislang unbekannten Sportarten in kurzer Zeit an die Weltspitze zu führen, erfuhren die Macherinnen und Macher in den letzten Jahren allerdings deutlich. «Ja», so tönt es aus dem Umfeld von Hua Yongmin. «In für uns neuen Sportarten ist der Transfer noch nicht gelungen.»

Dafür sei man da, wo Sportlerinnen und Sportler aus andern Sportarten «umgenutzt» werden konnten, weiter. In allen Sportarten, in denen Fertigkeiten zum Beispiel aus dem Kunstturnen genutzt werden können, gehört China heute zu den Nationen, die im Medaillenspiegel mitmischen werden. Dazu gehören akrobatische Sportarten wie Halfpipe- und Freestyle-Disziplinen oder Eiskunstlaufen. Auch im Eisschnelllauf, einer Disziplin, in der man sich mit Ausdauer-Fertigkeiten und der Bereitschaft zu sehr viel Training den Besten annähern kann, rechnet man mit Edelmetall.

Missglückter Eishockey-Versuch

Missglückt ist der Versuch, sich eine Eishockey-Nationalmannschaft zu bauen, ohne die entsprechende Nachwuchsförderung und Basisarbeit zu leisten. Zwischen Oktober 2018 und März 2019 wohnte eine rund 50-köpfige Delegation aus China in Magglingen und trainierte unter der Leitung der beiden Seeländer Trainer Jakob Kölliker und Alex Reinhard täglich in Zuchwil.

Dank dem Schweizer Knowhow wollten sich die Chinesen fit für das Olympiaturnier machen, bei dem sie als Gastgeber ohne Qualifikation teilnahmeberechtigt sind. Ins Team schafften es nun nur ganz wenige der unerfahrenen «Magglingen-Spieler». Das chinesische Olympiateam ist quasi identisch mit dem Team Red Star Kunlun, das in der von den Russen initiierten Profiliga KHL spielt.

Funktionierende Sportstrukturen sind verbunden mit eigenen Ausbilderinnen und Ausbildern, die sich um den Nachwuchs kümmern. Gemäss dem Spezialisten von der Sportuniversität sei man auch da noch nicht ganz am Ziel. Hua Yongmin: «Es sind noch zu viele Experten aus dem Ausland bei uns tätig. In der Ausbildung werden genügend Trainerinnen und Trainer ausgebildet. Der Transfer von Uniabgängern zu den Tätigkeiten in Vereinen und Verbänden ist aber noch zu wenig automatisiert.»

Mit der Frage zu den Prognosen mit Blick auf die bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Peking ist das gemiedene Thema zum Schluss des Austausches dann doch noch einmal Teil des Gesprächs. Und siehe da, der Optimismus in die eigenen Förder- und Selektionsmechanismen sorgt für Euphorie: «15 Goldmedaillen» tönt es aus Peking, «mindestens». Die angebotene Wette um 100 Franken wird angenommen.

Typisch China wird dabei kein Unterschied zwischen den Sportarten gemacht. Die Hauptsache ist, dass die Nation im Medaillenspiegel vorne erscheint. Dann hat man vieles richtig gemacht.

 

«In Gefangenschaft der Ökonomisierung»

 

Walter Mengisen, Seeländer Sportspezialist und Chinakenner, war zu Gast im Talk bei «Telebielingue». Zu den Olympischen Spielen äussert er sich kritisch.

Walter Mengisen: Über Jahre standen Sie beruflich mit Chinas Sportspitze in Kontakt. Müssten Sie nicht längst in Peking weilen?

Walter Mengisen: Ich wäre sehr gerne zu Gast an den Olympischen Winterspielen. Die Einladung lag vor. Die Auflagen der chinesischen Behörden sind aber so rigoros, dass ich lieber zu Hause bleibe.

Was hätten Sie als Besucher auf sich nehmen müssen?

Nach einer dreiwöchigen Quarantäne folgt eine schier endlose Testerei. In Peking kann man sich dann auch nur in ganz ausgewählten Bubbles bewegen. Die Chance zu Begegnungen und zum internationalen Austausch fällt so komplett weg.

Warum finden diese Spiele denn trotz den schwierigen Rahmenbedingungen statt?

Für China haben die Spiele eine unglaublich hohe Bedeutung. Die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten im Scheinwerferlicht zu präsentieren ist Motivation für alles, was an negativen Punkten rund um diesen Grossanlass bekannt ist.

Der Glanz der Olympia-Idee bröckelt also auch bei Ihnen?

Die Spiele sind in Gefangenschaft der Ökonomisierung. Das gilt aber nicht nur für Peking. Spiele, wie wir sie in Sotchi oder Rio erlebten, entwickeln sich in eine falsche Richtung. Die Agenda 2020 des Internationalen Olympischen Komitees, die zur Mässigung aufruft, hat bisher noch kaum Wirkung gezeigt. Ich bin gespannt, wie die Sommerspiele 2024 in Paris und die Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d’Ampezzo organisiert werden. In Frankreich und Italien regieren keine autoritären Regime. Wir werden sehen, ob sich da eine Normalisierung abzeichnet.

Sie waren seit 2004 regelmässig in China, haben auch die Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking live miterlebt. In welche Richtung entwickelt sich China?

Die Hoffnung, dass sich die Öffnung nach 2008 fortsetzt, hat sich bisher nicht erfüllt. Wir spüren das auch gut in der Zusammenarbeit mit der Beijing Sport University. Die akademische Freiheit ist nicht immer zu erkennen. Die aktuelle Führung erinnert sehr stark an die frühere Mao-Ära.

Neben den politischen und wirtschaftlichen Einflüssen leiden die Winterspiele 2022 insbesondere unter den Restriktionen der Coronapandemie. Macht die Durchführung überhaupt Sinn?

Ich persönlich hätte zumindest eine Verschiebung bevorzugt. Die Auflagen an alle Anwesenden sind wie vorher beschrieben derart streng, dass es meiner Meinung nach keinen Sinn macht.

Aus Sicht der Sportlerinnen und Sportler würde ein grosses Ziel, auf das sie jahrelang hinarbeiten, wegfallen. Die Aktiven sind gegen einen Verzicht.

Aus dieser Optik ist das verständlich. Ein Start an Olympia ist für viele der grosse Traum ihrer Karriere. Dieser hängt neben sportlichen Erfolgen auch mit wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten zusammen. Wer erfolgreich ist, kann das zum Beispiel im Sponsoring umsetzen.

Interview: Bernhard Rentsch

Info: Der ganze Talk hier

 

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