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Filmkritik

"De son vivant": Der Bürotisch des Lebens

Ein junger Mensch wird sterben. Was macht das mit ihm? Und was mit seinen Nächsten? "De son vivant" ist im Kern eindringlich, stolpert aber bei den Nebenschauplätzen.

Was bleibt, wenn ich nicht mehr bin? Benjamin (Benoît Magimel).

von Raphael Amstutz

Selten lässt sich der Inhalt eines Films in drei kurzen Sätzen zusammenfassen: Benjamin hat Krebs. Er wird sterben. Bald.

Filme über Krebs – besonders die Werke US-amerikanischer Provenienz mit grossen Stars – haben nicht selten die Tendenz, den Krankheitsverlauf mit einem Röhrenblick zu zeigen. Lieber also grosses Abschiedsfest im schönen Abendlicht als durchwachte Nächte voller Schmerzen, lieber effektvolles Erbrechen als langwieriges Aushalten einer Chemotherapie. Kurz: Es wird, trotz aller Tragik, dann doch ziemlich klinisch sauber gestorben – und die Stars wirken unter der Schminke doch sehr fidel.

«De son vivant», der als Schweizer Vorpremiere im vergangenen September am Festival du Film Français d’Helvétie in Biel gelaufen ist, geht einen anderen Weg.

Er zeigt Benjamins Auflehnung und den Schmerz, die Wut und die Resignation, die Hoffnung und die Angst, das Hadern und die Verzweiflung und alle emotionalen Zwischenstufen unaufgeregt und dicht.

Benoît Magimel spielt das langsame, aber unaufhaltsame Verglühen seines Lebens, sein Herausfallen aus der Zeit, mit grosser Eindringlichkeit. «De son vivant» zeigt die Krankheit in beeindruckend ehrlicher Weise. Mit viel Alltag, auf den Kern reduziert, weg vom cineastischen Feuerwerk.

Dieser Teil gelingt der Regisseurin Emmanuelle Bercot hervorragend. Beim Drumherum sieht es etwas anders aus.

Das Krankenhaus ist eine geradezu idealtypische Einrichtung. Das Personal scheint Tag und Nacht vor Ort zu sein und hat immer Zeit. Ausnahmslos jede Person ist mit einer riesigen Portion Empathie gesegnet, das Team scheint gänzlich konfliktfrei zu arbeiten, die Psychohygiene funktioniert vorzüglich. Es wird gelächelt, es wird musiziert, es wird gesungen. 

Kommt dazu, dass der Chefarzt – überzeugend gespielt von Laiendarsteller Gabriel Sara, der in New York als Onkologe arbeitet – die Sympathie und Warmherzigkeit erfunden zu haben scheint. Jeder Satz passt, jedes Wort ist eine philosophisch-psychologische Perle.

So überzeugt er Benjamin, seinen «Bürotisch des Lebens» zu räumen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und Liegengebliebenes in Ordnung zu bringen. Man wünscht sich, für die Patientinnen und die Pflegenden, dass jeder Krankenhausalltag – gerade auch in Pandemiezeiten – so ist. 

In der kurzen Zeit, die Benjamin bleibt, wird er, ohne damit zu viel von der Handlung zu verraten, mit den unterschiedlichen Reaktionen seiner Schauspielschülerinnen und –schülern konfrontiert, mit einer ungelösten Familiensache und mit einer Zuneigung, die kurz aufflammt. Vor allem muss er sich mit seiner Mutter (Catherine Deneuve) und dem Dreieck aus Überfürsorglichkeit, Missverständnis und Liebe auseinandersetzen. In diesen Rahmen- und Nebenhandlungen drückt ab und an etwas gar viel Kitsch durch und es fehlt an Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit.
 
Einmal mehr bleibt die eindrückliche Erkenntnis, wie stark die Grenzlinie zwischen den Todgeweihten und den Lebenden gezogen ist. Die Sterbenden sagen den Gesunden, wie wenig sie den Moment schätzen, wie sie sich nicht über Kleinigkeiten aufregen sollen, wie wichtig es sei, einander zu verzeihen, sich zu bedanken und zu sagen, wie sehr man sich liebt und sie erinnern daran, wie schnell das Leben vorbei sein kann. 
 
Die (Über)lebenden nicken betroffen und tun dann vor allem eines: verdrängen. Und wider besseren Wissens an die eigene Unsterblichkeit glauben und daran, dass für alles Zeit bleibt. Weil wir nicht anders können, als Themen, die zwar riesig, aber auch irgendwie unfassbar sind, – der Klimawandel zum Beispiel oder der eigene Tod – auszublenden.

Info: Im Kino Rex 2, Biel.

Die Bewertungen der BT-Filmkritikerinnen und BT-Filmkritiker:
Raphael Amstutz *** (von 5 Sternen)

 

Stichwörter: Filmkritik

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