Sie sind hier

Abo

Filmpodium

Die fernen Zwillinge

Der Basler Regisseur Frank Matter hat eine faszinierende Idee umgesetzt: Wie verläuft das Leben von Menschen, die am selben Tag geboren sind? «Parallel Lives» ist im neuen Zyklus des Bieler Filmpodiums zu sehen.

Erwartungsvoller Blick nach oben: Melissa Hensy und ihr neuer Mann, zwei der Protagonisten in «Parallel Lives».

von Raphael Amstutz

Wer hat sich das nicht schon überlegt: Welches Leben führen wohl Menschen, die am gleichen Tag und im gleichen Jahr geboren wurden wie ich? Reicht ein identisches Geburtsdatum für eine besondere Verbindung oder sind nicht viel eher der Ort, die Umstände und der Freundeskreis entscheidend? Kurz: Welche Faktoren bestimmen unsere Biografie?

Auch der Basler Regisseur Frank Matter hat sich diese Fragen gestellt und daraus einen rund zweistündigen Dokumentarfilm realisiert, der den Basler Filmpreis 2021 und den Publikumspreis anlässlich von BE Movie gewann.

Die Idee von «Parallel Lives» ist faszinierend – und es stellt sich einem die Frage, warum nicht schon eher jemand dieses Projekt in die Hand genommen hat.

8. Juni 1964. Das Geburtsdatum Matters. Er streut seine Idee hier und dort, schaltet Anzeigen – und entscheidet sie schliesslich für fünf Personen.

Zukiswa Ramncwana, geboren in einem kleinen Dorf in Südafrika. Sie hat die Apartheid erlebt und ihr Ende, sie wurde und wird konfrontiert mit den damit verbundenen Verwerfungen.

Michel Berandi, geboren in Paris. Er bricht aus den bürgerlichen Konventionen aus, wandert in die USA aus und erlebt dort die Höhen und Tiefen eines Rock’n’Roll-Lebens.

Melissa Hensy, geboren in den USA. Sie wird widerwillig zu einer Nomadin und muss erfahren, dass ihr Wunsch nach Selbstbestimmung schwieriger zu erfüllen ist als erhofft.

Li Pujian, geboren in der chinesischen Provinz. Er wächst in Armut auf und erlebt anschliessend den Wirtschaftsboom hautnah. Trotzdem ist damit längst nicht alles gut.

Matter hat Menschen ausgewählt, die an Orten wohnen, die in seiner eigenen Biografie eine wichtige Rolle gespielt haben.

Die fünfte Person ist er selber, geboren im Kanton Baselland. Im Abgleich mit seinen Hoffnungen und Ängsten, seinen Wahrnehmungen und Einschätzungen erzählt er aus dem Leben dieser vier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Dabei wird den Zuschauenden eine simple Weisheit plastisch vor Augen geführt: Obwohl wir alle ungewollt und ständig in einem Austausch mit der Zeit und der Umwelt stehen, hat jede und jeder von uns am Schluss doch nur das eigene Leben, die eigenen Erfahrungen, die eigenen Erinnerungen.

Matter flicht zwischen den fünf Menschen mittels der Zeitgeschichte ein Band. Das Grosse – politische Umwälzungen, 9/11 oder der Flug auf den Mond – steht gleichberechtigt neben dem Kleinen, das Weltgeschehen neben dem Alltag.

Diese Kombination ist ergiebig, kurzweilig und vielschichtig. Und sie macht, dass der Film über die eigentliche Laufzeit hinausreicht.

«Parallel Lives» weckt nämlich die Lust, das eigene Geburtsdatum als Anlass zu nehmen und ebenfalls eine Recherche zu beginnen. Oder zumindest das Klassenverzeichnis aus der Unterstufe hervorzukramen und sich zu fragen: Was ist wohl aus den Menschen meines Schuljahrgangs geworden?

Und dabei zu jenen Fragen vorzudringen, die grosses Kopfkino auslösen und die der Regisseur so formulierte: Was hätte es bedeutet, wenn ich woanders geboren worden wäre? Wäre ich dennoch ich oder wäre ich ein anderer?

Das Programm
Im Zyklus zum Schweizer Film werden, neben «Parallel Lives», fünf weitere Werke gezeigt, die von einheimischen Kunstschaffenden oder mit finanzieller Unterstützung aus der Schweiz entstanden sind.
«Hive»
Als ihr Mann im Kosovokrieg verschwindet, gründet Fahrije ein eigenes Unternehmen. Doch sie lebt in einem patriarchalen Dorf – und bekommt das zu spüren.
«Fedier –Urner Farbenvirtuose»
Porträt des abstrakten Urner Malers Franz Fedier mit dem Blick seiner Enkelin.
«Annette»
Die Geburt ihrer Tochter stellt das Leben einer berühmten Opernsängerin und eines umstrittenen Stand-Up-Comedian auf den Kopf. Poetisches und wildes Musical des unvergleichlichen Leos Carax.
«Thiel le rouge»
Im September 1963 stürzt eine Swissair-Maschine kurz nach dem Start in Kloten ab. In den Trümmern wird auch ein Portemonnaie eines gewissen Reynold Thiel gefunden. Wer war dieser Mann?Und warum liess ihn die Schweiz beschatten? Am Sonntag, 6. März, um 15 Uhr, wird die Regisseurin Danielle Jaeggi in Biel anwesend sein.
«Olga»
Die 15-jährige ukrainische Turnerin Olga lebt und trainiert in Magglingen. Als sich in Kiew die Menschen erheben, lässt sich der Sport nicht mehr von der Politik trennen.

Die internationalen Werke
Innerhalb des Zyklus’ sind auch internationale Werke zu sehen: So unter anderem das sympathische Road-Movie «The Last Bus», «Compartment No. 6», der auf einer langen Zugfahrt eine schüchterne Frau mit einem derben Mann zusammenbringt, die Musikdokumentation «Paolo Conte – Via con me» oder «Costa Brava, Lebanon», der von einer libanesischen Familie, Korruption und einer Mülldeponie erzählt. Ein besonderes Augenmerk verdient der vierteilige «Krieg und Frieden». Sergei Bondartschuk hat sich in den 60er-Jahren die Mammutaufgabe vorgenommen, den umfangreichen Roman von Leo Tolstoi auf die Leinwand zu bringen. Er hat es getan – mit einem siebenstündigen Werk.

Link: www.filmpodiumbiel.ch

Stichwörter: Bieler Filmpodium, Kino, Film

Nachrichten zu Kino »