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Filmkritik

"New Order": Chaos ist die neue Ordnung

Der Endzeit-Thriller aus Mexiko zeigt eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Der in Venedig preisgekrönte Film wirkt ziemlich realistisch – und genau das ist sein Problem.

Die Party ist vorbei: Aufständische stürmen mit Waffengewalt eine Hochzeit und richten ein Massaker an. Was folgt, ist das Ende der Zivilisation. 

von Mario Schnell 

Wir werden nicht gerade mit guten Nachrichten überhäuft in letzter Zeit. Hitzewellen, Waldbrände, Überschwemmungen prägen die Bilder in den Medien. Dazu kommt Corona mit all seinen gesellschaftlichen Folgen: Die Armut auf der Welt steigt wieder und die reichen Staaten schauen in erster Linie für sich selbst. Während wir hier, sozial bestens abgefedert, über Sinn und Unsinn von Massnahmen streiten, klafft die Schere zwischen Arm und Reich in vielen anderen Ländern immer weiter auseinander. Mit fatalen Folgen.

Der mexikanische Regisseur Michel Franco hat genau diesen Umstand als Ausgangslage für seinen neuen Film genommen. Am Beispiel Mexiko zeigt er auf, was in naher Zukunft passieren könnte, wenn eine zunehmend verarmte Bevölkerung auf die Idee kommt, sich mit Gewalt etwas vom Reichtum der Oberschicht zu holen. Der Film beginnt mit einer Hochzeitsparty in der Villa einer schwerreichen Familie. Dass unweit des Quartiers Aufstände im Gang sind, interessiert die Party-Teilnehmer nicht. Sie haben ihr Wachpersonal. Doch es dauert nicht lange, bis die Hochzeit gestört wird. Es kommt zu einem verstörenden Blutbad unter den Gästen.

Hier könnte die Geschichte bereits zu Ende sein. Doch dank eines geschickten Drehbuchkniffs verlässt die Hauptfigur Marianne die Hochzeit noch vor dem Massaker und begibt sich mit dem Auto in die Stadt. Sie wurde von einem Ex-Angestellten um finanzielle Hilfe gebeten, zeigt Herz und macht sich auf den Weg, um ihm Geld zu geben. Die Autofahrt endet jedoch im Chaos zwischen Aufständischen und dem Militär, das sich gnadenlos durchsetzt. 

Es ist keine schöne Welt, die Regisseur Franco da zeigt. Das Schlimmste ist nicht einmal die Gewalt, die er häufig nur über Schreie andeutet, die im Hintergrund zu hören sind – das Schlimmste ist die Tatsache, dass man in diesem Film niemandem trauen kann. Sind die Reichen bös und die Armen gut? Nein, so einfach ist es nicht. Und das ist eine der Stärken des Films. Auf der anderen Seite zeichnet der Thriller ein derart düsteres Weltbild, dass man sich die Frage stellt, wer sich denn in diesen problembelasteten Zeiten mit solch dunklem Stoff beschäftigen will.

Der Regisseur auf jeden Fall tut es, weil er schwarz sieht für sein Land. In einem Interview im Presseheft erklärt er: «Mehr als die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung – immerhin 64 Millionen Menschen – lebt in der einen oder anderen Form in Armut. Viele von ihnen können nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen, haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung, Erziehung.» Und weiter: «In Mexiko gibt es eine kleine Blase, in der die Oberklasse lebt und die die Slums komplett ausblendet, auch wenn die sich nur 15 Minuten entfernt befinden.»

«Meine Angst ist es, dass der Umsturz gewalttätig sein wird, wenn wir von den Ungerechtigkeiten noch viel länger die Augen verschliessen und sich nichts tut», so Franco. «Wenn es kein Ventil gibt, keinen friedvollen Protest, der tatsächlich Veränderungen nach sich zieht, dann wird der Druck so gross, dass er sich gewaltvoll seinen Weg bahnen wird.»

Wie sich Michel Franco das vorstellt, zeigt seine Dystopie. Sie zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der man niemandem mehr vertrauen kann, in der gelogen, betrogen, gefoltert und getötet wird. Das macht keinen Spass, ist aber spannend anzusehen und gibt zu denken. Wohl nicht nur in Mexiko.

Dass der Film keine Lösungen für die immensen Probleme präsentiert, die er anspricht, ist seine Stärke und Schwäche zugleich. Der konsequente Pessimismus und das düstere Menschenbild von «New Order» sind vielleicht realistische Zutaten für eine Endzeit-Vision, die in die Knochen fahren soll. Raum für Hoffnung gibt es in einer solchen Welt leider nicht. Oder sie wird immer wieder von Neuem zerstört. Ist es das, was wir im Kino suchen?  

Info: Im Kino Rex 1, Biel. Nur 20.15 Uhr.

Die Bewertungen der BT-Filmkritikerinnen und BT-Filmkritiker:
Dominic Schmid ***** (von 5 Sternen)
Mario Schnell *** (von 5 Sternen)

 

Stichwörter: Filmkritik

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