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Filmkritik

"Nightmare Alley": Ein Grosser fällt tief

Regisseur Guillermo del Toro serviert ein Remake des Film-Noir-Klassikers von 1947. Das würdige, stark besetzte Update bleibt erfreulich nah an der Vorlage.

Ich sehe alles, trotz verbundenen Augen: Stanton «Stan» Carlisle (Bradley Cooper) in seinem Element. 

von Roger Duft

Im Jahr 2017 feierte Hugh Jackman in der Rolle des berühmten Schaustellers P. T. Barnum als «The Greatest Showman» im Kino einen Grosserfolg.

Show, das konnte Barnum im 19. Jahrhundert wie kein Anderer. Seine Aussage, dass er immer «etwas für jedermann» anzubieten habe, lockte die Leute in Scharen in seine Veranstaltungen. Nimmt man diese Aussage aber wörtlich, so beschreibt sie etwas, was in der Psychologie als «Barnum-Effekt» beschrieben wird. Dabei werden Sätze gebildet, die in sich im Grunde keine wirkliche Information enthalten, den Menschen aber suggerieren, genau auf ihre Person zugeschnitten zu sein.

Diese «Barnum-Statements» machen sich Astrologen, Wahrsagerinnen und Hellseher seit jeher zunutze, um leichtgläubigen Menschen die Zukunft vorauszusagen. In vielen Fällen wird bei näherer Betrachtung einer solchen Analyse klar, dass die Aussagen sich oft auf eine sehr grosse Gruppe von Menschen herunterbrechen lassen. Etwas von dem, was geweissagt wird, dürfte daher fast sicher auch beim Kunden eintreffen – Ziel erreicht.

Die im Mentalismus oft benutzte Technik des «Cold Reading» verwendet im Grunde denselben Effekt, erweitert diesen aber um viele Themenbereiche.

Ian Rowland hat dies in seinem sehr lesenswerten «Full Facts Book of Cold Reading» eindrücklich zusammengefasst. Wer es gelesen hat, dürfte Astrologie und Hellseherei in einem ganz anderen Licht sehen.

Schausteller bedienen sich aber nicht nur dieser Tricks, um Leute in ihre Zelte zu locken. Ende des 19. und in den früheren Jahren des 20. Jahrhunderts wurde mit geistig und körperlich behinderten Personen oft übler Schindluder getrieben. Tod Brownings gesellschaftskritischer Horror-Klassiker «Freaks» (1932) zeigt dies hervorragend.

Die Menschen wurden mit ihren Missbildungen und Handicaps als Freaks oder Geeks («Aussenseiter») angepriesen. Und falls mal niemand Passendes zur Verfügung stand, musste auch mal ein in einer verruchten Seitenstrasse, einer «Nightmare Alley», aufgegriffener Alkoholiker hinhalten, der genügend zerstörte Hirnzellen aufwies, um nach etwas Misshandlung und mit genügend Rauschmitteln als Freak oder Geek durchzugehen.

In dieser Welt fühlt sich Stanton «Stan» Carlisle (Bradley Cooper) sichtlich wohl. Als Schausteller mit viel spitzbübischem Charme hat er reichlich Erfahrung und leichtes Spiel im Manipulieren von Leuten.

Als ihn der Zirkusinhaber Clem (Willem Dafoe) anstellt, um einen krank gewordenen Geek loszuwerden, wundert sich Stan noch, wie man so tief sinken kann. Stan bleibt jedoch bei Clem und arbeitet zunächst mit Madame Zeena (Toni Collette) und ihrem Mann Pete (David Strathairn), die mit Hilfe von Cold Reading und einem ausgeklügelten Code den Leuten mentale Fähigkeiten vorgaukeln.

Stan lässt sich von Pete den Code erklären. Als er sich in die junge Schaustellerin Molly (Rooney Mara) verliebt, schwebt ihm eine Zwei-Personen-Show vor, mit der beide gross rauskommen sollen.

Jahre später haben sich Stan und Molly dank dem gelernten Code-System und mit Stans Manipulationskünsten als «The Great Stanton» einen Namen im Showgeschäft gemacht. Als eines Abends die Psychologin Lilith Ritter (Cate Blanchett) droht, das Code-System vor allen Leuten aufzudecken, gerät der Erfolg des Duos zum ersten Mal ins Wanken.

Regisseur Guillermo del Toro («The Shape of Water», «Crimson Peak», «Hellboy») hat sich für sein neues Werk an eine Neuverfilmung des Romans von William Lindsay Gresham gemacht. Die Geschichte wurde 1947, ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung, von Edmund Goulding zu einem düster-grimmigen Film Noir verarbeitet.

Die Hauptrolle übernahm Tyrone Power, der hier seine Vielseitigkeit zeigen und gegen sein Saubermann-Image anspielen wollte, das er sich dank seinen zahlreichen Mantel- und Degenfilmen über die Jahre angeeignet hatte. Die Rolle schockierte das damalige Kinopublikum entsprechend, insbesondere der Schluss des Films hallte heftig nach.

Mit del Toro im Regiestuhl durfte von Beginn weg angenommen werden, dass die Neuinterpretation grosses Kino werden würde. Dafür spricht schon das hochkarätige Ensemble.

Bradley Cooper hat zwar im Vorfeld bereits einige unsympathische Leinwand-Charaktere verkörpert. Er muss sich also nicht, wie Tyrone Power dies wollte, von einem bestimmten Ruf «reinwaschen». Trotzdem schafft es Cooper blendend, seine Version von Stan zwar als machtverliebten, oft auch hinterhältig-zwielichtigen Kontroll-freak zu zeigen, dessen Charme einen aber oft an genau diesen unschönen Eigenschaften zweifeln lässt.

Rooney Mara ist an seiner Seite eine sanfte, aber innerlich starke Persönlichkeit, die Stan mit der Zeit mehr und mehr Paroli bietet.

Und als Psychologin Lilith Ritter kann Cate Blanchett ihre kühle Ausstrahlung bis zum Letzten ausreizen – der perfekte Inbegriff einer Femme Fatale des Film Noir. Auch die Nebenrollen sind mit Willem Dafoe, Toni Collette und David Strathairn bestens besetzt.

«Nightmare Alley» wurde unter der versierten, sorgfältig ausgearbeiteten Regie von del Toro zu einem brillant ausstaffierten, düsteren und stellenweise hochspannenden Thriller, der, für einmal bei del Toro, mit sehr wenig Blut auskommt. Der Film lebt von oft leisen Tönen, die beim heutigen Publikum vielleicht nicht ganz so laut wie es der Vorgänger von 1947 tat, aber doch gehörig nachhallen dürften. Er ist, analog seiner Vorlage, eine wuchtige Metapher auf das Sprichwort, das besagt, dass Hochmut vor dem Fall kommt.

Der tiefe Fall des «Great Stanton» zeigt deutlich, dass, wer grosse Erfolge feiert, nicht selten besonders hart auf dem Boden der Realität aufschlägt.

Info: In den Kinos Rex 1 und Bluecinema, Biel; auch in Lyss.

Die Bewertungen der BT-Filmkritikerinnen und BT-Filmkritiker:
Roger Duft **** (von 5 Sternen)

Stichwörter: Filmkritik

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