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Filmkritik

«Sin señas particulares»: Licht und Dunkelheit

Die Mexikanerin Fernanda Valadez erzählt in ihrem ersten Film von verschwundenen Söhnen und suchenden Müttern. Ein altes, trauriges Thema, für das die Regisseurin aber neue Bilder findet.

Sie möchte nur Gewissheit: Magdalena (Mercedes Hernández) auf der Suche nach ihrem Sohn. Am Filmfestival in Zürich ist «Sin señas particulares» mit dem Preis für den besten Spielfilm ausgezeichnet worden.

Von Dominic Schmid

«Von hinten sehen wir alle gleich aus», sagt Miguel (David Illescas) zu Magdalena (Mercedes Hernández), nachdem sie ihm mitgeteilt hat, dass er ihrem Sohn gleicht. Seit Wochen schon ist sie auf der Suche nach diesem. Mit einem anderen jungen Mann ist er, dem Rat eines Onkels folgend, Richtung USA aufgebrochen, um Arbeit zu finden.

Ein Unterfangen, wie es Unzählige in Angriff nehmen, und das ebenso Unzählige mit ihrem Leben bezahlen. Skrupellose Schlepper, brutale Banditen und Drogenclans auf einsamen Landstrassen, vom Gesetz schon längst vergessen, machen die Reise ohne die nötigen Papiere von Mexiko in die USA zu einer der gefährlichsten weltweit.

Ein Beamter zeigt den Frauen zwei Ordner, beide jeweils so dick wie zwei Fäuste. Sie enthalten die Bilder der Leichen, die in den letzten paar Wochen gefunden wurden, viele davon unkenntlich. Eine der Mütter erkennt ihren Sohn, knapp noch identifizierbar an seinem auffälligen Muttermal im Gesicht. Die andere, Magdalena, muss weiter suchen, auch gegen den Rat des Beamten.

«Haben sie noch Geld übrig? Dann kaufen sie sich ein Ticket und fahren nach Hause. Wenn ihr Sohn noch lebt, dann wird er sich melden. Und wenn er sich nicht meldet, ist sowieso nichts mehr zu machen.» Doch Magdalena muss wissen, was mit Jesús (Juan Jesús Varela) passiert ist. Der Sohn einer anderen Mutter war Jahre verschollen. Dann bekam sie die Nachricht: Man hat seine Leiche gefunden. Sie war erst zwei Wochen alt. Magdalena sucht weiter.

Von hinten sehen wir alle gleich aus. Auffällig oft zeigen Regisseurin Fernanda Valadez und ihre wunderbare Kamerafrau Claudia Becerril Bulos die Protagonistin aus ebendieser Perspektive. Die Mutter, wie sie durch das Fenster ihrem Sohn Jesús hinterherschaut, als dieser sich auf die Reise macht. Dieselbe Mutter im Bus, einer weiteren unsicheren Spur folgenden.

Fast immer sind diese Aussichten unscharf dargestellt. Ein Verweis, vielleicht, auf die gleichzeitig grauen- wie hoffnungsvolle Unsicherheit, aber auch darauf, dass sich solche und ähnliche Geschichten in Mexiko jeden Tag abspielen. Dass die Protagonistinnen und Protagonisten des Filmes stellvertretend für 1000 andere stehen.

Ein Meer aus Autolichtern schlägt Magdalena am Grenzübergang entgegen, pittoresk in seiner Unschärfe, unwägbar in all den tragischen Geschichten, welche die prominenteste Grenze der Welt Tag für Tag produziert. Später im Film leuchten dann andere Lichter im Hintergrund, mit eindeutigeren Assoziationen.

Die Suche der Mutter nach dem Sohn, sozusagen bis in die Unterwelt, erinnert an den Mythos. Die Bilder widersprechen diesem Eindruck nicht. Wie Odysseus’ Sohn Telemachos reist Magdalena den immer düstereren Informationen hinterher.

Der Bus von Jésus könnte entführt worden sein, wie dies oft zu geschehen scheint. Kleidungsstücke wurden von den Behörden gefunden, eine verkohlte Leiche wird mittels DNA-Analyse einem Mitpassagier zugeordnet. Eine Spur;aber, wie sich herausstellen wird, auch ein weiterer Verweis auf eine tragische Realität: Dass die korrupten Beamten solche Tests gerne fälschen, um verzweifelte Angehörige von ihrer Suche abzubringen. Auf keinen Fall sollen die Umstände in ein klares Licht getaucht werden, das politisches Handeln erforderlich machen würde.

Die mythologische Erzählung wird gedoppelt, als Magdalena auf Miguel trifft. Ihm war der Grenzübergang gelungen, doch in den USA wurde er erwischt und des Landes verwiesen. Zurück in Mexiko ist seine eigene Mutter verschwunden. Das Dorf, in dem diese lebt, ist so berüchtigt, dass der Taxifahrer nur in sicherer Entfernung zu halten bereit ist. Jeder Schatten hier ist eine Bedrohung. Wie jedes Geräusch könnte er von einem der Männer mit Maschinengewehren verursacht sein – auf der Suche nach Opfern, ohne zu wissen weshalb. Auf dem friedlich wirkenden See neben dem Dorf zückt ein alter Fischer vorsichtshalber als erstes seine Pistole, als ihn Magdalena und Miguel nach dem Weg fragen.

«Sin señas particulares» könnte ein Horrorfilm sein, wenn er möchte. Doch selbst die zurückhaltendsten Horrorfilme kommen am Ende nicht darum herum, ihre Monster abzubilden. Fernanda Valadez bleibt (fast) bis zum Schluss konsequent darin, die Dinge nur anzudeuten.

Die Auflösung des Rätsels, was mit Jesús passiert ist, erfahren wir durch die nicht übersetzten Worte und den unscharfen Blick eines alten Mannes (Manuel Campos), der überlebt hat. Er habe den Teufel gesehen, sagt er, und für einmal zeigt uns diesen die Kamera. Wenn die Realität so grausam wird, dass ihr der Blick nicht mehr standhalten kann, lässt sich diese nur noch mittels Mythen erzählen.

Im Gegensatz zu den alten Erzählungen aber, bei denen sich die Monster und die Teufel dank ihrer klassischen Attribute zweifelsfrei zuordnen lassen, tragen sie hier, wenn sie überhaupt sichtbar werden, keine besonderen Merkmale.

Info: «Sin señas particulares» ist unter www.filmingo.ch und www.trigon-film.org verfügbar.

Die Bewertungen der BT-Filmkritikerinnen und BT-Filmkritiker:
Dominic Schmid **** (von 5 Sternen)

Stichwörter: Filmkritik, Heimkino

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