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Tipps für nachhaltige Filmabende

Netflix ist bekannt für sein unüberblickbar grosses Angebot an Serien. Der amerikanische Streamingdienst ist jedoch weit mehr als ein Verteiler von Durchschnittskost. Wer sucht, der findet Perlen.

«One Hour Photo»: Robin Williams wirkt hilfsbereit und freundlich. Doch der erste Eindruck kann täuschen. Und wie. 

von Mario Schnell

Vielleicht gehören Sie zu jener Generation, die sich fragt, warum sie ein Netflix-Konto haben sollte. Vielleicht sind Sie aber auch sehr jung, haben dieses Konto schon lange, kennen praktisch jede Serie und beginnen sich langsam zu langweilen?

Dann sind die folgenden Zeilen auch für Sie geeignet. Es ist der Versuch, aufzuzeigen, welche filmischen Perlen sich im Angebot dieses Streamingdienstes verstecken. Über sie wird selten geschrieben, weil die Filme manchmal ziemlich anspruchsvoll sind oder schon so alt, dass sich kaum jemand an sie erinnert.

Beginnen wir doch gleich mit einer Perle aus dem Jahr 2002: «One Hour Photo» mit Robin Williams in der Hauptrolle. Dieser packende Thriller lief im Expo-Jahr in den Schweizer Kinos und ging damals ziemlich unter. Doch eine Wiederentdeckung lohnt sich auch heute noch: Der Film hat eine Präzision, Dichte und Tiefenschärfe, wie man sie nur selten sieht. Scharfsinnig und hintergründig hält er der bürgerlichen Gesellschaft einen Spiegel vor. Erzählt wird die Geschichte eines Angestellten in einem Fotolabor (Robin Williams), der exakt, hilfsbereit und einsam ist. Er kennt alle Bilder, die seine Kunden bei ihm zur Entwicklung aufgeben, besonders die Bilder der Familie Yorkin. Und diese Familie wird zu seiner Obsession.

«One Hour Photo» ist Thriller, Sozialstudie und Psychogramm zugleich. Ein Film, der die Erwartungen der Zuschauer ständig und bis zum letzten Bild unterläuft. Und er zeigt den Komiker Robin Williams in einer ebenso tragischen wie beängstigenden Rolle. Robin Williams litt an Depressionen und hat sich zwölf Jahre nach der Premiere das Leben genommen. Unter diesem Blickwinkel fährt einem der Film heute noch stärker in die Knochen als beim Kinostart. Ein Meisterwerk.

Knapp zwei Jahre später hatte «21 Grams» Premiere, der erste von Alejandro González Iñárritu in den USA gedrehte Film. Der Mexikaner katapultierte sich mit diesem Kunstwerk über den Sinn des Lebens in die A-Liga Hollywoods, ohne dessen Regeln zu übernehmen. Kompromisslos, intensiv und abgründig zeigt er aus unterschiedlichen Perspektiven, wie ein Autounfall das Leben von drei Menschen aus der Bahn wirft. Ein Film mit Langzeitwirkung, der dem Publikum alles abverlangt, ihm aber mehr zurückgibt, als manche zehnstündige Serie.

Tipp 1: "All The Bright Places"
Plumpe Teeniefilme findet man auf Netflix viele. Aber man findet eben auch das: Die wunderbare Elle Fanning spielt in der Literaturverfilmung «All The Bright Places» eine Schülerin, die nach dem Tod ihrer Schwester jede Freude verloren hat, sich aber dank einem Mitschüler wieder auffängt. Subtil und glaubwürdig inszenierte Geschichte, die auch schweren Themen nicht ausweicht. Die Gefühle von Jugendlichen werden ernst genommen und sind nicht einfach ein Ventil für billige Lacher. Das Ende allerdings irritiert ziemlich.

Tipp 2: "American Factory"
Nicht einmal ein Oscar garantiert heute einen Kinoerfolg. Als bester Dokumentarfilm wurde im Februar dieses Jahres «American Factory» ausgezeichnet, und es lohnt sich unbedingt, den von den Obamas präsentierten Film auf Netflix anzuschauen. Ein chinesischer Milliardär eröffnet eine neue Fabrik in den USA. Die Anlage, die einst General Motors gehörte, schafft 2000 Arbeitsplätze in Ohio. Nach anfänglichem Optimismus kommt es zu Konflikten zwischen China und den US-Arbeitern. Der vielschichtige Film zeigt, was Globalisierung bedeutet. Es ist alles andere als einfach.

Tipp 3: "Bir Başkadır"
Meryem (Öykü Karayel) steht im Mittelpunkt der türkischen Serie «Bir Başkadır», die in der Türkei und anderen islamisch geprägten Ländern für Furore sorgt. Das psychologische Drama ist etwas vom Besten, was es momentan als Stream zu sehen gibt. Herausragend gespielt und formal wunderschön bringt es in anspruchsvollen Dialogen die Zerrissenheit eines Landes auf den Punkt, das zwischen Moderne und Tradition schwankt. Es geht um acht Menschen in und um Istanbul, die alle grosse Probleme haben. Actionszenen fehlen, sonst kracht es aber auf allen Ebenen.

Tipp 4: "Blue Jay"
Wer auf glaubwürdige Romantik und die Stärke von Blicken und Gesten im Kino setzt, sollte diese wunderbare Beinahe-Liebesgeschichte nicht verpassen. «Blue Jay» ist echtes Independent-Kino, gedreht in schwarz-weiss, und erzählt die Geschichte von zwei Menschen, die sich nach Jahren per Zufall wieder begegnen. Bald wissen wir: Als Teenager mochten sie sich sehr, doch dann trennten sich ihre Wege und jetzt kommt es zu einem Treffen, das alles wieder neu entzünden könnte. Oder doch nicht? Ein Film mit der unterschwelligen Spannung eines hinausgezögerten Kusses. Herzergreifend.

Tipp 5: "Love & Anarchy"
Und zum Schluss noch ein Tipp für eine brandneue Serie, die in einem Land entstand, das man im Kino eher selten antrifft. Sie kommt aus Schweden und bietet einen gelungenen Mix aus Komödie, Familiendrama, Romantik und Erotik. «Love & Anarchy» erzählt nicht ganz jugendfrei von einer verheirateten Frau, die als Beraterin in einem kleinen Buchverlag arbeitet und dort einen gewaltigen und gewagten Flirt mit einem jungen IT-Experten beginnt. Skandinavische Freizügigkeit paart sich hier mit intelligenten Dialogen, absurdem Witz und menschlicher Tragik.


 

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