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Kinderspital

Über den Umgang mit den Kleinsten

Sie sind nicht einfach kleine Menschen, sondern haben ganz spezielle Bedürfnisse: Die Kinder, die im Bieler Spitalzentrum behandelt werden.

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Lotti Teuscher
Der erste Eindruck wird zum ständigen Begleiter während des Rundgangs durch die Kinderklinik Wildermeth: Hier ist es bunt. Farbige Fantasieskulpturen des Bieler Künstlers M.S. Bastian, Bilder aus Trickfilmen in Patientenzimmern, Spielsachen vom roten Traktor bis zum pinkfarbenen Puppenwagen. Eine helle Stimme ruft «schutten», der Kleine stolpert zum Töggelikasten, im Schlepptau sein wachsamer Vater. Eine Vierjährige mit Infusion im Arm strebt energisch auf eine Spielecke zu, die zehnjährige Schwester schiebt behutsam den Infusionsständer hinterher, begleitet von der Mutter. Die Räume sind gross, hell und verwinkelt. Nur eines fehlt vollständig: Spitalgeruch.
Bevor die Kinderklinik 2008 ins Spitalzentrum verlegt wurde, ertönten besorgte Stimmen: «Das Kinderspital, integriert in ein Spital für Erwachsene? Das kann nicht gut gehen.» Aber es ist gut gegangen. Zwar gibt es ein paar wenige Berührungspunkte zum Spital für Erwachsene, zum Beispiel beim Eingang zur Notfallklinik. Aber bereits nach wenigen Metern weist butterblumengelbe Farbe Kindern, Eltern und Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen den Weg zu den Räumen Kinderklinik.
 

Die Kleinsten im «Brutkasten»

Die Kleinsten, die in der Neonatologie behandelt werden, sind gerade mal 32 Wochen alt, Frühchen, die acht Wochen vor dem Geburtstermin zur Welt gekommen sind, zum Teil nur 1250 Gramm leicht. Noch jüngere Neugeborene werden meist in der «Insel» in Bern gepflegt.
Mathias Gebauer, leitender Arzt der Pädiatrie und Neonatologe, ist ein grosser Mann, der knapp zwei Kilogramm leichte Säugling wirkt in seinen Armen noch winziger, als er tatsächlich ist. Die Frühchen wirken zerbrechlich, macht Ihnen das manchmal Angst? Mathias Gebauer denkt eine Weile nach, bevor er sagt: «Ärzte und Pflegefachfrauen sind mit dem feinen Umgang mit den Frühchen vertraut. Unsere Aufgabe ist es, zu erkennen, welche Probleme ein Säugling hat.»
Und dies können viele sein: Frühchen sind aufgrund unreifer Lungen vielfach auf eine Stauerstoffzufuhr angewiesen. Das koordinierte Trinken mit Saugen, Schlucken und Atmen fällt ihnen schwer, deshalb werden sie mittels Magensonde und Infusion ernährt. Wegen des geringen Körpergewichts ist auch die Temperaturregulation ein Problem, sie werden in «Brutkästen» oder Wärmebettchen gelegt.
Und dennoch: Kinder, die zwei Monate vor dem Geburtstermin zur Welt kommen, haben dank der Entwicklung der Medizin bezüglich Überleben praktisch keine Einschränkungen. Auch das Risiko für Krankheiten wie Infektionen oder psychomotorische Einschränkungen ist nur leicht erhöht.
In einem Wärmebettchen schlafen gleich zwei Winzlinge, es sind Zwillinge, im Schlaf bewegen sie die zarten Hände und geben leise Laute von sich. Über ihren flaumigen Köpfchen hängt je ein roter Ballon. Die Ballone sind stark geschrumpft, haben aber eine grosse Bedeutung: Aufgeblasen werden sie, wenn die Säuglinge ein Gewicht von zwei Kilogramm erreicht haben und meist bald darauf entlassen werden können. Wenn die Eltern ihre Kinder nach Hause nehmen, spürt Mathias Gebauer leisen Stolz: «Ich merke, wie die Eltern nach ihren Kinder ‹plangen› und freue mich jedes Mal, wenn sie endlich zusammensein können.»
 

Eltern und Kinder nicht trennen

Zusammensein ist ein Stichwort, das in der Kinderklinik eminent wichtig ist: Alle Eltern haben die Möglichkeit, auf einem Klappbett neben ihren Kindern zu übernachten. Väter und Mütter von Säuglingen können im Elternzimmer schlafen. Die Kinder finden bei ihren Eltern Halt, Sicherheit und Trost, die Eltern beruhigt es, in ihrer Nähe zu sein.
Aber was, wenn der Verdacht besteht, dass Väter oder Mütter ihre Kinder misshandelt oder sexuell missbraucht haben? Philippe Liniger, Chefarzt Chirurgie der Pädiatrie, stellt erst einmal zwei Dinge klar: «Wir sind keine Strafverfolgungsbehörde, aber für uns steht das Wohl der Kinder im Zentrum.»
Ärzte und Pflegepersonal überlegen, ob der geschilderte Unfall mit den Verletzungen eines Kindes übereinstimmt. So fällt zum Beispiel ein drei Monate altes Baby kaum vom Wickeltisch, da es sich noch nicht drehen kann. Ein Sechsmonatiges, das deutlich agiler ist, hingegen schon.
Wird während der Nacht ein Kind eingeliefert, das verdächtige Verletzungen aufweist, wird es bis zum Morgen im Spital behalten. «Denn wir wollen nicht in der Nacht handeln, sondern Zeit schaffen und es Tag werden lassen», sagt Philippe Liniger. Am Tag sind mehr Personen anwesend, die dann besprechen, wie es weitergehen soll. Manchmal wird den Eltern gesagt: «Wir können uns dies oder das nicht erklären», allenfalls wird die Kindesschutzbehörde eingeschaltet.
Verletzungen aufgrund von Misshandlungen sind indes die grosse Ausnahme. Alltag sind Verletzungen wie Schädelbrüche oder Hirnerschütterungen, Knochenbrüche oder Wunden. Und weiter Husten, Asthma, Lungen- oder Blinddarmentzündungen oder Kleinkinder mit Magendarmgrippe, die dehydrieren. Nicht aufgenommen werden Kinder mit grossflächigen Verbrennungen oder bösartigen Tumorerkrankungen, die zum Teil so  selten sind, dass nur wenige Universitätskliniken Behandlungen durchführen.
 

Den Kindern die Angst nehmen

Bei Behandlungen gilt als oberstes Prinzip: Den Kindern so weit als möglich die Angst nehmen und sie wenn immer möglich mitentscheiden lassen, damit sie sich nicht ausgeliefert fühlen. «Manchmal genügt es, dass sie die Farbe des Gipses wählen können, wenn sie sich das Bein gebrochen haben », sagt Philippe Liniger.

Untersuchungen wie Rückenmarkpunktionen dagegen sind unangenehm und flössen Angst ein. Früher, sagt Liniger schmunzelnd, habe man den Kindern «Plemplemtropfen» gegeben. Dormicum wirkt allerdings lange und manchmal waren die Kinder wegen der Wirkung des starken Barbiturats und Narkosemittels verwirrt. Heute bekommen die Patienten eine Mischung aus Lachgas und Sauerstoff, die nur kurz wirkt und gut verträglich ist.

In den Warteräumen ist es heute ruhig, bis auf ein paar Kinder, Mütter, Väter und eine Grossmutter ist niemand zu sehen. Die Grossmutter wartet mit zwei Buben vor den Behandlungsräumen, die Kinder sind quengelig. Der Grössere schnappt sich den Nuggi des Kleineren, der beginnt zu weinen, die Grossmutter beruhigt. Die etwa 65-Jährige hat vermutlich noch die Zeiten erlebt, als Kindern, die beim Arztbesuch weinten, gesagt wurde: «Reiss Dich zusammen!». Zeiten, die endgültig vorbei sind.

Sorgen um Kinder sind immer gross

«Sorgen um Kinder», sagt Chefarzt Liniger, «sind ganz grosse Sorgen. Es tut einem oft leid, wenn sie krank sind, an einer Unverträglichkeit leiden oder Schmerzen haben.»

Die Kinder aufzumuntern ist die Aufgabe von Hatschi, dem Clown im Arztkittel der Stiftung Theodora, der abenteuerlich dekoriert ist. Jeden Mittwochnachmittag besucht Hatschi die Kinder, zaubert, dreht aus Ballons Schafe, Hunde oder Katzen, Hühner und auch Hühnerfutter, falls dies gewünscht wird.

Sie machen dies seit nunmehr 17 Jahren, was ist Ihre Motivation? Hatschi kratzt sich an der roten Pappnase und sagt: «Den Kindern ein Lächeln ans Bett zu bringen. Dann vergessen sie, dass sie am Bein einen Gips tragen.» Oft ist es Hatschi, der nach einer Operation das erste Lächeln der Kinder entgegennehmen darf. Dieses Lächeln ist auch für die Eltern eine grosse Erleichterung.

Pippi Langstrumpf (so will sie im BT genannt werden) ist erst vor Kurzem aus der Narkose erwacht. Sie schaut den Besuch mit grossen Augen an, das rotblonde Haar wie eine Gloriole um ihren Kopf ausgebreitet. Wie die Heldin in Astrid Lindgrens Roman hat auch die etwa Zehnjährige etwas Verschmitztes. Gefällt es Dir im Spital? «Ja», sagt Pippi Langstrumpf, «weil ich basteln kann.» Du bist jetzt seit einer Woche hier, wird Dir nicht langweilig? «Doch, einmal habe ich mich gelangweilt», sagt das Mädchen mit Schalk in den Augen.

Kinder sind pragmatisch und vergessen schnell. Und die Kleineren brauchen nach Verletzungen fast nie Physiotherapie. Denn sie bewegen verletzte Glieder von selber, hören auf, wenn die Bewegungen schmerzen und beginnen zwei Stunden später von Neuem. Erst wenn sie grösser werden, verlieren sie diese Art körperlicher Intelligenz.

Kinder haben explizite Rechte

Kinder sind aber auch die verletzlichsten aller Patienten; dem trägt die Kinderklinik Rechnung mit der zehn Punkte umfassenden Kindercharta für europäische Spitäler. Karin Thomas, Pflegeexpertin des Departements Frau und Kind, wacht mit dem Betreuungsteam darüber, dass die Charta eingehalten wird: «Denn Kinder sind keine kleine Erwachsene. Und bei uns bedeutet die Betreuung eines Kindes immer auch die Begleitung der Eltern mit ihren Ängsten und Sorgen.»

Die jungen Patienten haben in der Kinderklinik explizite Rechte. Wenn einem Kind etwas erklärt wird, wird eine Form gewählt, die seinem Alter und seiner Entwicklung entspricht. Zudem darf kein Zwang ausgeübt werden, stattdessen setzen die Fachpersonen auf Ablenkung. Kinder dürfen gemäss der Charta nur dann stationär behandelt werden, wenn es keine andere Möglichkeit gibt: Wenn zum Beispiel ein Kleinkind Antibiotikum ausspeit, hat das Spital mehr Optionen als die Kinderspitex.

Was gefällt Ihnen an Ihrem Beruf? Karin Thomas muss nicht lange überlegen: «Die Reaktion der Kinder ist häufig nicht vorauszusehen. Sie sind ehrlich und es braucht Fantasie, um auf sie einzugehen.»

Der Rundgang durch die bunte Kinderklinik ist beinahe zu Ende. Kurz fällt der Blick auf ein Kindergesicht, weil die Türe zum Behandlungszimmer einen Spalt weit offen ist. Das Gesichtchen ist fahl, fast weiss, die Augen sind geschlossen.

Zuvor hatte Pädiater Philippe Liniger gesagt, der Spirit der alten Kinderklinik Wildermeth sei mit ins neue Spital gezügelt worden. Es ist jener Geist, der es den jungen Patientinnen und Patienten leichter macht.

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