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Ankommen, zur Ruhe finden und neu starten: Ein Ort für Frauen in Not

Die Stiftung für Frauen und Kinder Biel ist heute vor 50 Jahren gegründet worden. Im Wohnhaus Sotto Sopra finden Frauen in schwierigen Lebenssituationen eine sichere Bleibe. Und in der öffentlichen Kindertagesstätte Tutti Frutti ist für das Wohl der Kleinen gesorgt.

Helen Biedermann Vuille und Christine Zimmermann (von links) teilen sich das Präsidium der Stiftung für Frauen und Kinder Biel. Bild: Anne-Camille Vaucher

Carmen Stalder

Bedroht, gedemütigt, geschlagen – manche Frauen erleben in ihrer Beziehung die Hölle. Wenn sie nicht mehr weiterwissen, bietet ihnen das Frauenhaus an einem geheimen Ort in der Stadt Biel einen sicheren Unterschlupf. Der Aufenthalt im Frauenhaus ist allerdings nur als kurzfristige Zwischenlösung gedacht. Frauen, die für eine längere Zeit oder sogar nie mehr nach Hause zurückkehren können oder wollen, müssen sich anderweitig umsehen. Eine mögliche Bleibe ist das Wohnhaus Sotto Sopra der Stiftung für Frauen und Kinder Biel – und das seit 50 Jahren.

Aktuell stellt das Wohnhaus an der Seevorstadt 46 neun möblierte Studios zur Verfügung. Hier können sich Frauen in Not für bis zu zwei Jahre einmieten. Haben sie Kinder, dürfen sie drei Jahre lang bleiben. «Sie können sich in Ruhe zurückziehen, um anschliessend wieder in die Normalität zu finden», sagt Geschäftsführerin Beatrice Frei. Auf einem Rundgang führt sie durch das weitläufige Wohnhaus, das hell und farbenfroh daherkommt. Die Studios dagegen sind spärlich eingerichtet und bieten nur das Nötigste: ein Bett, eine kleine Küchenecke, einen Schrank und eine Dusche.

Beatrice Frei erzählt, dass die Frauen bei ihrer Ankunft im Wohnhaus stets emotional sehr belastet seien. Im Studio angekommen werde ihnen klar, dass sie sich an einem Tiefpunkt befinden. Doch im Sotto Sopra werden sie nicht alleine gelassen. Einmal in der Woche kommt eine Sozialarbeiterin zu Besuch. Die sogenannte Frauenbegleiterin hat ein offenes Ohr für die Sorgen der Bewohnerinnen und hilft ihnen bei administrativen Hürden. Mit ihrer Unterstützung sollen sich die Frauen und ihre Kinder ein selbstständiges Dasein aufbauen – fernab von Drohungen, Demütigungen und Schlägen.

Kaum Schweizerinnen
Die Frauen, die im Wohnhaus Sotto Sopra aufgenommen werden, werden meist durch das Frauenhaus, soziale Dienste oder auch Kirchgemeinden in der Region Biel und Seeland vermittelt. 95 Prozent von ihnen sind Ausländerinnen, oftmals mit unklarem Aufenthaltsstatus. Für diese Frauen sei es viel schwieriger, eine eigene Bleibe zu finden – im Gegensatz zu Schweizerinnen, die besser vernetzt seien, sagt Helen Biedermann Vuille. Gemeinsam mit Christine Zimmermann teilt sie sich das Präsidium der Stiftung.
Seit acht Jahren engagiert sich Helen Biedermann Vuille im Stiftungsrat. Sie schätzt diese Freiwilligenarbeit aufgrund ihrer Sinnhaftigkeit. Vor vier Jahren hat sie Christine Zimmermann ins Boot geholt, die zu diesem Zeitpunkt auf der Suche nach einem wohltätigen Engagement war.

Die beiden Frauen führen ihr Amt mit viel Elan aus. Manchmal erfahren sie durch die Geschäftsleiterin von früheren Bewohnerinnen, die eine eigene Wohnung und eine Arbeitsstelle gefunden haben. Solche Erfolgsmeldungen höre man natürlich gerne, sagt Christine Zimmermann. Doch bis zu diesem Moment ist es manchmal ein langer und steiniger Weg.

Erst einmal eignet sich das Wohnhaus nicht für alle Frauen. Da es sich um ein niederschwelliges Angebot mit relativ wenig Betreuung handelt, nimmt die Stiftung keine süchtigen und keine psychisch kranken Frauen auf. Denn in der Nacht und am Wochenende sind die Bewohnerinnen auf sich selbst gestellt. «Die Frauenbegleiterin hat auch schon Frauen aufgenommen, bei denen sich schnell herausgestellte, dass es nicht klappen wird», sagt Helen Biedermann Vuille. Etwa, weil sie nicht zu ihren Kindern schauen konnten oder weil sie eine Gefährdung für die restlichen Bewohnerinnen darstellten.

Neben einer gewissen Selbstständigkeit müssen die Frauen auch beweisen, dass sie ihr Schicksal in die Hand nehmen wollen. Es gebe Bewohnerinnen, die am liebsten bleiben würden – die müssten dann dazu motiviert werden, sich nach einer langfristigen Lösung umzusehen. «Wenn man sie ein wenig drängt, gehen manchmal plötzlich Türen auf», sagt Christine Zimmermann mit einem Lächeln.

Einzigartige Kombination
Das Wohnhaus ist meistens voll belegt. Oft gebe es sogar Wartelisten, und manche Frauen mussten abgewiesen werden – was der Frauenbegleiterin schwerfiel. Es sei einmal zur Diskussion gestanden, ein zusätzliches Haus zu mieten, sagt Helen Biedermann Vuille, das habe sich dann aber als zu kompliziert herausgestellt.

Das Wohnhaus erhält keinerlei öffentliche Gelder, es wird durch die Studiomieten und Spenden finanziert. Im Gegenteil zur zweiten Institution der Stiftung, die sich im selben Gebäude befindet: der öffentlichen Kindertagesstätte Tutti Frutti, die sowohl Privatplätze als auch von der Stadt Biel subventionierte Plätze anbietet.

Diese Kombination aus Frauenwohnhaus und Kindertagesstätte unter einem Dach sei einzigartig, sagen die Stiftungsratspräsidentinnen stolz. Die Kita wird derzeit von rund 80 Kindern vom Säuglings- bis Kindergartenalter besucht. Einige von ihnen wohnen mit ihren Müttern im Sotto Sopra, die meisten Kinder werden jedoch am Morgen von ihren Eltern gebracht. Im Gebäude ist deshalb tagsüber immer etwas los: Kinder wuseln umher, Betreuerinnen und Betreuer gehen ihrer Arbeit nach, Eltern holen ihren Nachwuchs ab. «Es ist durchaus wünschenswert, dass sich zwischen der Kita und den Bewohnerinnen des Wohnhauses Begegnungen ergeben», sagt Beatrice Frei.
Sowieso gibt es Synergien zwischen den beiden Institutionen: Für die Kinder der Bewohnerinnen gibt es garantierte Betreuungsplätze. Und wenn in der Kita zu viel gekocht wird, dürfen die Bewohnerinnen kostenlos mitessen. Dem Essen wird in der Kindertagesstätte hohe Bedeutung zugemessen. Die Küche ist mit dem Zertifikat «Fourchette verte – Ama terra» ausgezeichnet, das für eine ausgewogene und nachhaltige Ernährung von Kindern steht.

Manchmal helfen die Kinder beim Zubereiten des Essens mit, und einmal pro Woche geht es gemeinsam mit dem Betreuungspersonal auf den Märit – jedenfalls bevor sich das Coronavirus ausgebreitet hatte.

Helen Biedermann Vuille und Christine Zimmermann sind zuversichtlich, dass die Stiftung für Frauen und Kinder Biel noch lange weiter bestehen wird. Das Angebot werde auch in Zukunft einem grossen Bedürfnis entsprechen, sind sie sich einig.

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