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Nidau/Bern

Blutbad in Nidau: War es versuchter Mord?

2016 stach ein Mann auf offener Strasse in Nidau wild auf seine Ex-Partnerin ein. 2019 sprach ihn das Regionalgericht der versuchten Tötung schuldig. Nun befindet das Obergericht erneut darüber – die Haftstrafe könnte sich um fünf Jahre verlängern.

Vor Obergericht fordern Staatsanwalt und Anwalt des Opfers, dass der Beschuldigte wegen versuchten Mordes verurteilt wird. Bild: HAF/A

Hannah Frei

Es ist eine grauenhafte Tat: Im Juni 2016 lauerte ein Eritreer seiner Ex-Partnerin und Mutter seiner drei Kinder auf, um sie mit einem Küchenmesser zu töten. Er verletzte sie mit 24 Schnitten, über dem Auge, an der Brust, an den Armen. Nur dank der Hilfe von Bauarbeitern und Nachbarinnen konnte die damals 37-Jährige gerettet werden. Das Kind, das sie zur Tatzeit unter ihrem Leibe trug, kam elf Wochen später tot zur Welt.

2019 sprach das Regionalgericht Berner Jura-Seeland den heute 53-Jährigen der versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig. Das Strafmass: zehn Jahre Haft. Für die Staatsanwaltschaft und das Opfer war dies nicht genug. Sie zogen das Urteil weiter ans Obergericht, wo die alte Frage gestern neu aufgeworfen wurde: War es versuchte Tötung oder versuchter Mord?

 

Anklagepunkt fallen gelassen

Gemäss Anklageschrift hätte sich der Beschuldigte vor Obergericht nicht nur wegen versuchten Mordes und versuchter vorsätzlicher Tötung verantworten müssen, sondern auch wegen strafbaren Schwangerschaftsabbruchs ohne Einwilligung der schwangeren Frau. Davon sprach ihn das Regionalgericht damals frei. Der Tod des Kindes könne auf eine natürliche Ursache zurückzuführen sein, so die Begründung. Zudem sei unklar, ob der Beschuldigte überhaupt von der Schwangerschaft gewusst habe.

Diesen Anklagepunkt liess Generalstaatsanwalt Markus Schmutz gestern vor Obergericht jedoch überraschenderweise fallen. Darüber informiert wurde der Beschuldigte erst zu Beginn der Verhandlung. Ob er dies verstanden habe, fragte Oberrichter Fritz Aebi den Angeklagten – via Übersetzer. Verwundert antwortete der Beschuldigte: «Weshalb bin ich dann überhaupt hier?», wohl in der Annahme, dass an dem Urteil der versuchten Tötung nicht mehr gerüttelt werde.

Doch es wurde gerüttelt: Aebi wollte nochmals wissen, wie es genau zu der Tat in Nidau gekommen ist. Zuerst befragte er das Opfer. Der Beschuldigte verliess den Saal. Er wäre geblieben, sagte er, doch sie wollte das nicht. Die beiden haben seit der Tat keinen Kontakt mehr, mit den Kindern unterhalte er sich nur per Telefon – der Angeklagte sitzt seit mehreren Jahren in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Thorberg.

Die Aussagen des Opfers liessen die Anwesenden erst einmal aufatmen: Von den Verletzungen habe sie sich gut erholt, eingeschränkt sei lediglich noch die linke Hand. Auch die Kinder seien wohl auf, der Älteste beginne im Sommer eine Lehre als Elektroniker.

Aebi fragte sie nach Details: Von welcher Seite der Beschuldigte damals auf sie zugekommen sei, was sie zu ihm gesagt habe, wie sie versucht habe, sich zu verteidigen. Das Opfer erinnerte sich, oft sehr genau. Von der linken Seite sei er auf sie zugekommen. «Ich sagte: Bitte, tu das nicht.» Doch das habe nichts genützt. Während er sie mit der linken Hand festhielt, stach er mit der rechten zu – und hörte auch nicht damit auf, als sich das Opfer kurz aus seinem Griff befreien und ein paar Schritte weg von ihm gehen konnte. Bereits Monate vor der Tat habe er ihr gedroht, sie einmal mit einem Messer zu töten. Seit 2012 sind die beiden kein Paar mehr. Gegen den Beschuldigten lief ein Verfahren wegen häuslicher Gewalt.

 

Geständig, aber nicht hilfreich

Die Tat gab der Beschuldigte gestern zwar zu, das hat er bereits vor dem Regionalgericht getan. Doch viel mehr hatte er an der gestrigen Verhandlung nicht zu sagen. «Ich erinnere mich nicht», antwortete er auf praktisch jede Frage des Oberrichters. Er wisse nicht, wie es zu dieser Tat kommen konnte. «Ich frage mich jeden Tag, weshalb ich das getan habe», sagte er. Sein Zustand sei damals schlecht gewesen, er habe Alkohol getrunken, nichts gegessen, sei nicht sich selbst gewesen.

Oberrichter Aebi riss schier der Geduldsfaden: «Sie haben 24-mal auf diese Frau eingestochen. Stehen sie endlich dazu», sagte er und hämmerte mit einem Farbmarker in der Hand auf das Pult, um zu demonstrieren, wie der Beschuldigte auf die Frau eingestochen haben muss. Er wisse, dass er dies nicht hätte machen dürfen, so der Angeklagte – viel mehr kam von ihm aber nicht. Auch nicht, als ihm Aebi ein Foto seiner Ex-Partnerin zeigte, blutüberströmt, auf dem Boden liegend. Es schien, als wolle er sich nicht mit der Tat auseinandersetzen. Das will er auch in der JVA Thorberg nicht, eine Therapie verweigert er bis heute. Er beteuert zwar, dass ihm die Tat leidtue, mehr könne er jedoch nicht sagen.

So bliebt dem Generalstaatsanwalt Markus Schmutz in seinem Plädoyer auch nicht viel anderes übrig, als sich auf die Akten des erstinstanzlichen Verfahrens zu stützen. Die Hypothese des Regionalgerichts, der Beschuldigte habe mit dem Messer lediglich drohen wollen und sich erst vor Ort entschieden, auf seine Ex-Partnerin einzustechen, sei unglaubhaft. Die Regel «Im Zweifel für den Angeklagten» sei vom Regionalgericht überstrapaziert worden. Damals wurde als Grund für die Tat eine Handyrechnung von über 1000 Franken genannt, die der Beschuldigte dem Opfer übergeben und dazu bringen wollte, diese zu bezahlen. Auch das ist für Schmutz nicht glaubhaft. Es sei bestätigt, dass der Angeklagte dem Opfer im Vorfeld mehrmals damit gedroht habe, sie umzubringen. Die Gründe dafür sei enttäuschte Hoffnung und Gesichtsverlust gewesen – seine Ex-Partnerin habe Affären gehabt und ihn schliesslich für einen anderen Mann verlassen. Zudem habe sie vor den Kindern schlecht über ihn geredet und ihm den Besuch verboten.

 

15 Jahre Haft gefordert

«Er hat besondere Grausamkeit bewiesen», so Schmutz. Daher müsse er zwingend wegen Mordes verurteilt werden. Schmutz fordert 15 Jahre Haft. Dem stimmt auch der Vertreter des Opfers, Markus Jordi, zu. «Das Regionalgericht hat massiv relativiert und den Gesamtblick verloren.» Auch er fordert, dass der Beschuldigte des versuchten Mordes schuldig gesprochen wird.

Dem hielt Verteidiger Lukas Bürge entgegen: «Ich plädiere für Totschlag.» Eine besondere Skrupellosigkeit liege hier nicht vor. Zudem sei nicht bewiesen, dass sein Mandant mit der Absicht, seine Ex-Partnerin zu töten, losgezogen sei. Daher fordert Bürge, den Beschuldigten der eventualvorsätzlichen Tötung schuldig zu sprechen und ihn zu sechs Jahren Haft zu verurteilen. Die Urteilsverkündung findet morgen statt.

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