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Abenteuer

«Das Boot rollt hin und her – das ist zuviel des Guten»

In der ersten Woche der Umwelt-Expedition zum Amazonas-Delta lernt der 64-jährige Nidauer Chirurg Jérôme Tschudi das harte Leben auf stürmischer See kennen. Auch die Arbeit ist anstrengend. Und Tschudi hat nun sogar eine Vorstellung, was Securitas-Leute leisten.

Der Blick von der Brücke der Esperanza bei Sturm mit 60 Knoten Wind und rund sieben Meter hohen Wellen.  Copyright Bieler Tagblatt / zvg
  • Dossier

Tagebuch: Jérôme Tschudi

Sonntag, 11. März

«Ich werde ich am Flughafen abgeholt und zur Esperanza gebracht, die beflaggt am Quai in Bordeaux liegt. Der Seesack wird verstaut und ich werde in die Freiwilligengruppe integriert. Ich bin gleich damit beschäftigt, Geschirr abzuwaschen und aufzuräumen.

Nach kurzem Schlaf heisst es um 2 Uhr: Leinen los. Die Reise geht los (siehe Infobox.) Ich werde auf die Brücke kommandiert, um mir meinen zukünftigen Job als Matrose anzuschauen. Die Mannschaft an Deck rennt hin und her, bis alle Trossen verstaut sind. Während der Lotse seine Anweisungen gibt, um das Schiff in der Mitte der Fahrrinne zu halten, herrscht auf der Brücke völlige Ruhe. Gegen Morgen erreichen wir den Golf von Biskaya und werden dort von einer steifen Brise mit Beaufort 7 und fünf Meter hohen Wellen empfangen.

Dienstag: Achterbahn

Die Biskaya erweist ihrem schlechten Ruf alle Ehre. Ich habe vor der Abfahrt eine Tablette Stugeron eingenommen, die hilft: Ich fühle mich zwar übel, muss aber nicht erbrechen und nehme sogar am Abendessen teil. Ich spende meine Stugeron anderen Seekranken. Später finde ich weitere Packungen davon im «Spital» an Bord, als ich dort Inventar mache.

Der Seegang ist gewöhnungsbedürftig. Beim Gehen wird man von der einen zur anderen Wand geworfen. In der engen Koje fühle ich mich wie auf der Achterbahn. Auf dem WC kämpfe ich darum, auf der Brille sitzen zu bleiben. Das Schlagen der Anker in ihrer Halterung, die sich im Seegang gelöst haben, tönt als würde mit einem Hammer auf Metall geschlagen.

Morgens bin ich in der Putzequipe eingeteilt. Danach staune ich im «Spital» nicht schlecht: Die Vorschriften für ein relativ kleines Schiff wie die Esperanza verlangen zum Beispiel einen Defibrillator. Alle Geräte sind einwandfrei gewartet.

Mittwoch: Seekrank

In der Nacht hat der Wind stetig aufgefrischt. Am Morgen erreicht er zwischen 50 und 60 Knoten, das sind bis 10 Beaufort. Zuerst noch von vorn, kommen Wind und Wellen ab Kap Finisterre von der Seite. Das Boot rollt hin und her, was für mich zuviel des Guten ist. Trotz Stugeron schaffe ich es kaum, mich anzuziehen; zum Frühstück begnüge ich mich mit einem Tee. Zum Glück weiss ich, wo die Tabletten gegen Reisekrankheit zu finden sind. Im kleinen Raum ohne Lüftung könnte ich mich sonst nicht lange aufhalten, ohne erbrechen zu müssen. So kann ich alle versorgen, denen es ergeht wie mir.

Dann lege ich mich hin, und drücke mich vor möglichst vielen Aufgaben. Am schlimmsten sind die unglaublich vielen umherfliegenden oder rollenden Gegenstände, obwohl wir glaubten, zuvor alles fachgerecht festgezurrt zu haben.

Donnerstag: Abfall trennen

Wir schippern fernab der portugiesischen Küste Richtung Südwest. Der Wind hat nachgelassen, die sieben Meter hohen Wellen führen aber immer noch zu starken Rollbewegungen. Am Morgen soll ich die Duschen putzen. Das ist jedoch nicht möglich, weil eine verstopft ist. Zwei Crewmitglieder bearbeiten das verstopfte Rohr mit Schraubzieher und Weinessig, bis ich meine Arbeit machen kann.

Meine Kolleginnen haben in der Zwischenzeit eine im Sturm aus ihrer Halterung gerissene Rettungsinsel gesichert. Ich spreche mit dem ersten Offizier des Schiffs. Er würde gerne etwas mehr verdienen, was auf einem Handelsschiff möglich wäre. Dann aber wäre sein Herz nicht dabei, sagt er.

Zusammen mit drei jungen, mir vorgesetzten Frauen verfrachte ich anschliessend den Abfall in Container auf Deck, säuberlich getrennt. Organische Abfälle bewahren wir gekühlt auf, um sie im nächsten Hafen der Wiederverwertung zuführen.

Freitag: Putztour

Das Wetter ist freundlicher, mit Sonnenschein und Kumuluswolken. Die Esperanza gleitet ruhiger, rollt aber immer noch recht stark. Mittlerweile sind alle seefest geworden. Nach der morgendlichen Putztour räumen wir eine Werkstatt auf Deck auf; der Sturm hat seine Spuren hinterlassen. Später kreieren wir ein Banner für den Protest gegen eine neue Ölpipeline zum Pazifik.

Beim Mittagessen erfahre ich vom Österreicher der Crew, wie Greenpeace-Aktivisten ausgebildet werden. Er besuchte einen Einführungskurs im Tessin, wo es vor allem um den Gewaltverzicht ging und um Kommunikationstechniken, mit denen Spannungen reduziert werden können.

Auf der Esperanza sind bei einer Crew von 20 Leuten 16 Nationalitäten vertreten: drei Deutsche, je zwei Russen und Spanier und je eine Person aus Panama, der Zentralafrikanischen Republik, der Ukraine, Österreich, Neuseeland, Litauen, Indien, den Philippinen, der Schweiz, Belgien, den USA, Bulgarien und Brasilien. Die offizielle Sprache an Bord ist Englisch. Alle arbeiten sehr professionell, dabei herrscht ein kameradschaftlicher Umgangston. Alle helfen einander, was ich als ältester Teilnehmer und Novize sehr zu schätzen weiss.

Samstag: Wie viel Fleisch?

Heute dauert das Arbeitsprogramm bloss bis am Mittag, danach ist nur Dienstbetrieb, wo dieser unabdingbar ist, etwa auf der Brücke und im Maschinenraum. Die «Ämtli» müssen allerdings auch ausgeführt werden. Ich putze die Messe nach dem Frühstück, dem Mittag- und dem Abendessen. Morgen hat der Koch seinen freien Tag und wir Matrosen werden für alle kochen; ich trage mich für das Abendessen ein. Obwohl ich nicht zum Kochen auf die Esperanza gekommen bin, will ich meine Kollegen nicht enttäuschen. Die Menge wird mich stressen: Ich habe noch nie für 20 Leute gekocht.

Greenpeace muss sich nachhaltig verhalten. Das immer umzusetzen, ist allerdings schwierig. Etwa beim Fleischkonsum. Die versammelte Crew hat darüber diskutiert. Die Mehrheit sprach sich für drei Mal Fleisch pro Woche aus. Die Fleischportionen sind allerdings viel kleiner, als jene, die in Restaurants aufgetischt werden. Ausserdem werden keine Speiseresten fortgeworfen, sie werden bei der nächsten Mahlzeit aufgewärmt und dann auch gegessen.

Wir reinigen heute die Vorratskammern und suchen sie nach abgelaufenen Nahrungsmittel ab. Wir legen beiseite, was bis zur Ankunft in Brasilien konsumiert werden muss. Denn die brasilianischen Behörden kontrollieren einlaufende Schiffe sehr genau: Abgelaufene Nahrungsmittel kosten bis zu 10000 Euro Busse.
Am Nachmittag werde ich vom Diensthabenden auf der Brücke über die Sicherheitseinrichtungen der Esperanza informiert. Es hat sich diesbezüglich sehr viel getan, seit ich meinen «B-Schein» erworben habe. Diese Nacht werden wir Madeira passieren und Kurs auf die Kanarischen Inseln halten.

Sonntag: Sold wie in der RS

Erst heute früh, frisch geduscht und rasiert, erfahre ich, dass heute Ruhetag ist. Also kein festes Programm, ausser auf der Brücke und im Maschinenraum. Für das Mittagessen haben sich meine vorgesetzten Kolleginnen eingeschrieben, die aus den USA, Belgien und Brasilien stammen. Es gibt Pommes frites, vegetarische Würstchen an einer Zwiebelsauce, Ratatouille und Salat.

Das Abendessen werde ich zusammen mit einem Spanier zubereiten. Er hat mich beim Spleissen angeleitet, wohlwollend, als wären wir schon lange Kumpel. Er war nach seinem Militärdienst in der Marine einige Monate mit Médecins sans Frontières in der Republik Jemen. Als Nächstes möchte er auf der Arctic Sunrise in die Arktis.
Gestern führte ich mein zweites Gespräch mit dem Kapitän. Er stellte mir einen Arbeitsvertrag als Greenpeace-Freiwilliger aus, damit ich bei der Einreise nach Brasilien keine Schwierigkeiten mit der Zollbehörde kriege. So erfuhr ich, dass mir die Reisespesen, die Kranken- und Unfallversicherung und 4,5 Euro pro Arbeitstag bezahlt werden; das entspricht etwa meinem Sold in der Rekrutenschule 1974.

Beim Vorbereiten des Abendessens hat der Koch Mitleid mit uns: Er übernimmt die Leitung der Operation Nachtessen. Die Mahlzeit gewinnt dadurch zweifellos an Qualität. Nach dem Essen werde ich im Wacheschieben als Ausguck auf der Brücke instruiert.

Montag: Kontrollgang

Zwischen Mitternacht und 4 Uhr bin ich auf der Brücke zur Unterstützung des wachhabenden Offiziers. Zumindest zeitweise, denn meine Hauptaufgabe besteht darin, alle Stunde einen Rundgang durch das Schiff zu machen, auf dem ich alle Räume und Einrichtungen kontrolliere, die Feuer fangen oder beschädigt werden könnten. Auf Deck gilt das besondere Augenmerk den festgezurrten Schlauchbooten und Containern, die das wissenschaftliche Material enthalten, inklusive der Tauchroboter, aber auch der Rettungsinseln, die sich aus ihren Halterungen lösen könnten. Der Rundgang benötigt rund 20 Minuten. Es sind viele sehr steile Treppen hinab- und wieder hinaufzusteigen. Dafür kenne ich nun alle Räume der Esperanza. Genauso stelle ich mir die Arbeit von Securitas-Angestellten vor.

Auf der Brücke informiert mich der Zweite Offizier über die verschiedenen Navigationsmittel. Er zeigt er mir einen Bewegungsmelder, der Alarm schlägt, wenn sich  zwölf Minuten lang niemand auf der Brücke aufhält. Neben den Kontrollen bleibt Zeit zum Plaudern. Mit dem Deutschen spreche ich Deutsch, was mir besser liegt als Englisch. Er arbeitet seit knapp fünf Jahren für Greenpeace. Er erzählt von Einsätzen gegen illegale Fischerei im Indischen Ozean und vor der afrikanischen Küste.

Dienstag, 20. März

Ich scheine nun fest für die sogenannte Hundewache zwischen Mitternacht und 4 Uhr eingeteilt zu sein. Wir haben die Kanarischen Inseln hinter uns gelassen und werden von Passatwinden sanft vorwärtsgeschoben, natürlich immer unter Motor. Während der ganzen Wache begegnen wir keinem einzigen Schiff. Die Temperaturen sind stark gestiegen, nachts 21 Grad Celsius, tagsüber natürlich mehr, was man beim stetig wehenden Passatwind aber gar nicht so bemerkt. T-Shirt und Shorts sind dennoch angesagt.

Wir stehen dann auf der Brücke und der Zweite Offizier erklärt mir die Sternbilder und zeigt mir das Kreuz des Südens am Himmel, das ich zum ersten Mal sehe.
Nach dem «Ausschlafen» ordne ich die angelieferten Medikamente im «Spital» ein. Am Nachmittag helfe ich der Deckmannschaft, einen Teil von Reling und Aufbau mit Phosphorsäure aufzufrischen. Danach werden die bearbeiteten Teile mit dem Hochdruckreiniger abgespritzt, so sind morgen bereit zum Streichen .

Bis zum Feierabend sortieren wir den Abfall. Dazwischen finde ich etwas Zeit, meine Wäsche zu machen. Für mich sind diese Arbeiten streng genug. Einerseits kämpfe ich immer damit, das Gleichgewicht zu behalten, dazu kommt die eigentliche Arbeit. Auf einemSchiff wie der Esperanza ist schon das Öffnen und Schliessen der Türen anstrengend, weil immer mehrere schwer gehende Hebel zu betätigen sind, welche die Türen dann aber auch wasserdicht verschliessen.
Der Bootsmann schaut genau, welche Arbeiten er mir als Ältestem der Crewmitglieder geben kann, ohne mich einerseits zu überfordern und mich andererseits einer übermässigen Verletzungsgefahr auszusetzen.»
Bearbeitung: pst

Zur Person und zur Expedition
• Der 64-jährige Jérôme Tschudi lebt in Nidau und arbeitet als Chirurg in Biel. Mit der Teilnahme an der zweimonatigen Expedition auf der 72 Meter langen Esperanza, dem Forschungssschiff der Umweltorganisation Greenpeace, hat er sich einen Lebenstraum erfüllt.
• Die Expedition ist Teil einer Kampagne zum Schutz des kürzlich entdeckten Amazonas-Riffs vor der brasilianischen Küste. Dieses liegt vor der Flussmündung des Amazonas. Es sei das einzigeKorallenriff, das unter diesen extremen Bedingungen gedeihe, heisst es bei Greenpeace.
• Das Riff ist 1100 Kilometer lang und etwa so gross, wie Graubünden und das Tessin zusammen. Ölkonzerne wollen in der Nähe nach Erdöl bohren. Mit der Expedition will Greenpeace die Basis legen, um das ökologisch sensible und «wertvolle Gebiet zu einem Meeresschutzgebiet zu machen, wo Fischerei-Aktivitäten und Ölbohrungen verboten sind».
 

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