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Biel

Der Promi unter den Stadtbäumen

Die mächtige Kastanie auf dem Platz vor der Bieler Stadtkirche wurde Mitte des 19. Jahrhunderts umgepflanzt. Sie stand zuerst an der Schüsspromenade. Rosskastanien galten früher als Heil- und Zahlungsmittel. Heute sind sie ein Beitrag an die städtische Biodiversität.

Der Baumstrunk auf der historischen Lithographie von 1840 ist wahrscheinlich etwas übertrieben, der Baum wäre sonst zu dem Zeitpunkt bereits 182 Jahre alt gewesen. BIld: memreg
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Sabine Kronenberg

In der Mitte des 19. Jahrhunderts musste die bröckelnde Kirchenmauer bei der Stadtkirche in Biel ersetzt werden und die heute noch bestehende Plattform wurde gebaut. Während des Baus dieser Plattform verpflanzte man einen Kastanienbaum von der Schüsspromenade mitten auf den neuen Kirchplatz. Das Alter des Baumes wird aufgrund seines Stammumfangs auf ungefähr 230 Jahre geschätzt.


Bild: Peter Samuel Jaggi

Kastanienbäume waren zu dem Zeitpunkt bereits sehr verbreitet in Europa und wurden in Siedlungen oftmals an Alleen als Schattenspender eingesetzt. Ursprünglich kommen die Bäume mit grosser Wahrscheinlichkeit aus Ostasien und wurden von den Römern eingeführt. Erstmals in der Schweiz taucht die Kastanie, damals zunächst die Edelkastanie mit den essbaren Früchten, 800 v. Chr. im Tessin auf und verbreitet sich dann bis 500 v. Chr. rasch bis in hügelige Höhen, jedoch nur sehr selten bis 1300 Meter über Meer, da diese Baumart nicht nur licht-, sondern auch wärmebedürftig ist.

 

Regelrechte Kastanienkultur
Seit jeher entwickelte sich eine regelrechte Kastanienkultur. Zuerst in den Fruchthainen des Tessins für das begehrte Nahrungsmittel Maroni. Später verbreitete sich die Rosskastanie, wie der Name andeutet, als Futterzusatz für Pferde. Bereits 1565 wird die Verwendung der Rosskastanie bei Pferden als Mittel gegen Husten beschrieben. Die Saponine, die in der Rosskastanie reichlich vorhanden sind, lösen den zähen Schleim in den Bronchien kranker Tiere. Und was heute nicht mehr so verbreitetes Wissen ist: Rosskastanien sind eine günstige, umweltschonende Alternative zu herkömmlichen Waschmitteln, denn die Saponine sind seifenartige, sehr ergiebige Substanzen. Zwei Kilogramm getrocknetes Rosskastanienpulver reichen für rund 100 Waschgänge. Die Rosskastanie ist sehr hautverträglich und eignet sich daher besonders zum Waschen der Wäsche von Menschen mit empfindlicher Haut. Ausserdem stellte man aus frisch gesammelten Rosskastanien früher Kastanienbäder her, um nervliche und rheumatische Schmerzen zu lindern.

Die für Mensch und Tier grosse Bedeutung der Kastanienbäume führte dazu, dass die Art oft als «l’arbul», als «der Baum» schlechthin bezeichnet wurde. Dieser Begriff findet sich in amtlichen Dokumenten in den Archiven und heute hört man die Bezeichnung noch in manchen Dialekten. Seit dem Frühmittelalter sind denn Kastanienfrüchte auch als Steuerabgabe, Zehnt oder als Tauschmittel beschrieben.

Der Kastanienbaum bei der Kirche hat historisch jedoch nichts mit der Kirchensteuer zu tun und diente in erster Linie als Zierbaum und Schattenspender, seiner Blütenpracht und seiner ausladenden Krone wegen. Auf der historischen Darstellung ruhen sich Passanten auf der Bank um den Baum aus.

 

Filterung von Schadstoffen
Und heute ist der Baum ein Beitrag an die Biodiversität der Stadt. Der Fachjargon spricht von Ökosystemleistungen von Stadtbäumen: sie versorgen, regulieren, unterstützen und erbringen sogar eine kulturelle Leistung. Durch Luftreinigung, Filterung von Staub und Schadstoffen sowie Kohlendioxidspeicherung hat ein Stadtbaum eine ausgleichende Wirkung auf das lokale Klima und reduziert Lärmemissionen. Als Habitat für Tier- und Pflanzenarten kann der Kastanienbaum bei der Stadtkirche kleine Fledermäuse und eine Vielfalt an Insekten beherbergen. Und als Kulturgut erhöht der Baum den Erholungs- und historischen Wert und damit letztlich den Immobilienwert der Kirche. So verändert sich die Wahrnehmung eines Baumes im Verlauf der Jahrhunderte.

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