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Kommentar

Der Westast ist nach wie vor eine politische Frage

Höchst wahrnehmbar hat sich in den vergangenen Monaten die Opposition gegen das offizielle A5-Westast-Ausführungsprojekt bemerkbar gemacht.

Tobias Graden, Teamleiter Kultur und Wirtschaft
  • Dossier

Sie hat Bäume markiert, die gefällt werden sollen. Sie hat Stadtführungen organisiert, die gezeigt haben, welche Häuser abgerissen werden, wo die Anschlüsse zu stehen kommen und welche Dimensionen diese haben. Sie hat ein Alternativprojekt präsentiert, das zwar naturgemäss nicht den Realisationsfortschritt und Detaillierungsgrad des offiziellen Projekts aufweist, aber auch nicht bloss eine Spinnerei von Fantasten ist. Sie hat zwei grosse Demonstrationen organisiert, die letzte ist erst ein paar Tage her, ungefähr 3500 Personen haben daran teilgenommen. Und sie ist nicht zuletzt in den sozialen Medien überaus aktiv. Beinahe täglich, mindestens jedenfalls wöchentlich erscheinen neue Stellungnahmen und Positionsbezüge, aber bisweilen auch ausführliche, recherchierte Inhalte einer ehemaligen Journalistin – gewiss tendenziös aufbereitet, aber kenntnisreich. Manchmal überschreiten die Meldungen die Grenze zur populistischen Polemik bei weitem, etwa wenn implizit ein gigantoman-chaotischer Autobahnknoten in China mit dem Projekt in Biel verglichen wird. Egal – auch solches wird dutzendfach geteilt und bekräftigt die Gegnerschaft in ihrer Überzeugung, für die einzig rechte und gerechte Sache zu kämpfen.

Ob all der spektakulären Aktionen der Gegnerschaft, die mit diesen ihr legitimes Interesse zum Ausdruck bringt, kann leicht vergessen gehen, dass es in Biel und Umgebung eine stille Fraktion geben dürfte, die dem Projekt nicht dermassen kritisch gegenübersteht und die ihrerseits legitime Interessen hat. Das sind nicht junge, urbane, progressive Menschen, die gewandt mit den neuen Medien umgehen und ihre Haltung offensiv mit ihren Followern, Friends und allen anderen teilen. Sondern es sind Handwerker, denen effiziente Verkehrswege viel Ärger ersparen; es sind KMU-Besitzer, die der aufrichtigen Meinung sind, der Westast samt Anschlüssen bringe die Region vorwärts; und es sind sicherlich nicht wenige Seeländerinnen und Seeländer, die nicht in der Stadt wohnen und auf das Auto nicht verzichten können oder wollen. Und nicht zuletzt sind da die übergeordneten Ebenen, der Kanton Bern und die Eidgenossenschaft, die das zweifellos ebenfalls legitime Interesse haben, das Schweizer Autobahnnetz nach Jahrzehnten der Planung endlich zu vollenden. Der Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht sagt es im Interview ganz lapidar: Es gibt eben zwei verschiedene Blickwinkel.

In dieser Gemengelage legitimer Interessen kommt das Finden der idealen Lösung einer schier unlösbaren Aufgabe gleich, zumal sich die gesellschaftlichen Realitäten seit den ersten Gedanken um die Bieler Autobahnumfahrung doch stark gewandelt haben. Die Quadratur des Kreises mit möglichst schmerzloser Bauphase ist in Biel auf dem engen Gelände zwischen der Stadtgrenze zu Nidau und dem Seefelsen wohl ein Ding der Unmöglichkeit.

Ebenso korrekt ist es festzuhalten, dass die vorgesehenen politischen Mitsprachemöglichkeiten ausgeschöpft sind und dabei der reguläre institutionelle Rahmen eingehalten wurde, dass also der Westast in seiner offiziellen Variante mithin beschlossene Sache ist. Warum also führt das «Bieler Tagblatt» eine repräsentative Umfrage durch, die auch nach dem Alternativvorschlag und einer Nulllösung fragt? Weil der Westast eben nach wie vor eine politische Frage ist. Mit ihren Aktionen und ihrer Mobilisierung hat ihn die Gegnerschaft zu einer solchen gemacht, ob das der Bauherrschaft oder der Wirtschaft nun passt oder nicht. Eine repräsentative Erhebung fördert Informationen zutage, sie bildet die Realität ab.

Allerdings gilt es festzuhalten: Es ist die Realität zum Zeitpunkt der Umfrage, und dieser Zeitpunkt kam nach Monaten einer Kampagne, die nur die eine Seite führte. Es ist das Versäumnis der Befürworter, deren Verhinderungspotenzial unterschätzt und nicht sofort ihrerseits mit einer Pro-Kampagne reagiert zu haben. Gleichwohl: Es kann durchaus eine Auswirkung auf die Resultate haben, wenn die Befragten Inhalte von beiden Seiten zur Kenntnis genommen haben. Das zeigt jeweils der Verlauf der Haltungen vor Abstimmungen zu eidgenössischen Initiativen.

Um wirklich zu wissen, was die Bevölkerung will, wäre darum in Biel eine Konsultativabstimmung angezeigt – in näherer Zukunft, aber mit genügend zeitlichem Abstand, sodass eine echte demokratische Meinungsbildung möglich ist. In jenen Gemeinden, in denen eine Konsultativabstimmung rechtlich nicht möglich ist, wären von den Gemeinden initiierte repräsentative Umfragen denkbar. Natürlich wäre dies dann rechtlich nicht bindend – aber es wäre ein politischer, demokratischer Weg zur Überwindung einer drohenden Blockadesituation.

Übrigens: Manchmal wünsche man sich Verhältnisse wie in Singapur, war aus Wirtschaftskreisen bisweilen zu vernehmen, dort wäre der Westast samt Anschlüssen schon längst gebaut.

Ein Blick auf Singapur? Bitteschön: Wer dort ein Auto kaufen will, muss zuerst ein Zertifikat dafür ersteigern. Dieses ist unter Umständen fast schon so teuer wie das Auto selbst. Der Preis für das Auto kommt hinzu, und dieser ist deutlich höher als hierzulande, weil der Staat darauf eine «Luxusabgabe» erhebt. Der Fahrzeugbestand ist staatlich kontingentiert und derzeit auf der bestehenden Zahl eingefroren. Neue Autos kommen nur dann infrage, wenn alte abgegeben werden. Dabei ist die Zahl der Autos im Vergleich mit mitteleuropäischen Verhältnissen denkbar gering: Auf einen Einwohner kommen 0,1 Fahrzeuge – in der Schweiz sind es 0,7.

Wer nun einwendet, man könne den Stadtstaat Singapur mit seiner enormen Bevölkerungsdichte doch nicht mit der Schweiz vergleichen, dem sei beigepflichtet: eben.

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