Andrea Butorin
«Fast jede Frau kann ein Erlebnis erzählen. Ein Erlebnis einer ungewollten Berührung am Oberschenkel, ein Erlebnis mit einem aufdringlichen Mann im Ausgang, der erst locker lässt, nach dem der erfundene Freund erwähnt wird, oder mit einem Partner, der das ‹Nein› zu Sex nur schwer akzeptiert. Oder mit einem Professor oder Lehrer, der zu lange in den Ausschnitt starrt und anzügliche Bemerkungen macht; ‹hey, geilä Arsch› auf dem Heimweg, das Penisfoto in den DMs auf Social Media oder das Erlebnis mit dem guten Freund, dem vertraut wurde und der einen dann doch ungefragt geküsst und aufs Bett gedrückt hat. Beinahe jede Frau kennt das Gefühl, immer vorsichtig sein und aufpassen zu müssen.»
All das ist sexualisierte Gewalt. Angefangen bei unerwünschten Berührungen über verbale Belästigung bis hin zu einer Vergewaltigung. Aufgezählt hatte die Beispiele Anna-Béatrice Schmaltz, Programmverantwortliche und Kampagnenleiterin bei cfd – die feministische Friedensorganisation, an der Pressekonferenz zur Aktion «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» in Bern. Diese wird in der Schweiz seit 2008 durchgeführt und von cfd koordiniert. Jedes Jahr wird ein neues Fokusthema gewählt, und heuer heisst es: Stopp sexualisierte Gewalt.
Macht und Gewalt, nicht Lust
Während Schmaltz in Bern engagiert ist, sind Michelle Gisiger und Melanie, die wegen ihrer Arbeit im Frauenhaus nicht mit Nachnamen genannt werden möchte, in Biel aktiv. Am Donnerstagnachmittag trotzten sie Kälte und Nebel und bemalten zum Kampagnenstart den Zentralplatz mit ihren Forderungen.
In der ganzen Schweiz engagieren sich über 150 Organisationen für die Aktion, und auch in Biel sind verschiedene Vereine aktiv: Michelle Gisiger ist im Frauenstreik-Kollektiv und im Gleichstellungsnetzwerk aktiv, Melanie bei Solidarité femmes Biel/Bienne. Auch das öko-feministische Kollektiv La Bise oder das Mädchenhouse des filles sind engagiert.
Seit drei Jahren finden in Biel anlässlich der 16 Tage Aktionen statt, dieses Jahr gab es erstmals eine koordinierende Arbeitsgruppe, in der die drei Frauen vertreten sind. Nebst der Kreideaktion gibt es heute etwaeine Diskussionsrunde, nächste Woche folgen eine Filmvorführung und ein Selbstverteidigungskurs für Mädchen und Frauen.
Ihr Ziel: «Wir wollen das Thema für eine breite Bevölkerung sichtbar machen», sagt Melanie. Eigentlich wäre dies schon längst der Fall. Eine Studie von gfs.bern von 2019 ergab, dass jede zweite Frau in der Schweiz von sexualisierter Gewalt betroffen ist. «Sexualisiert» und nicht «sexuell» darum, weil die oben beschriebenen Handlungen so gar nichts mit Sex und Lust zu tun haben, sondern mit Gewalt und Machtausübung.
Auch eine brandaktuelle Studie der Forschungsstelle sotomo zeigt, dass Handlungsbedarf besteht. So findet jede dritte befragte Person, es sei nicht immer ganz klar, was einvernehmlicher Sex sei, und ob eine Vergewaltigung stattgefunden habe, findet fast die Hälfte der Befragten teils schwierig zu beurteilen.
Letztes Jahr wurden schweizweit 713 Vergewaltigungen und 683 Fälle von sexueller Nötigung angezeigt. Laut der gfs-Studie werden allerdings lediglich acht Prozent aller Fälle angezeigt. Trauriger Höhepunkt in der Statistik sind die Zahl der begangenen Femizide: 2020 wurden 16 Fälle registriert, dieses Jahr sind es bereits 25.
Melanie ist der Meinung, dass Gewalt an Frauen bei den jungen Menschen tendenziell zugenommen hat. Das schliesst sie aus Aussagen ihrer beiden jugendlichen Söhne, die sagen, fast alle Frauen in ihrem Umfeld hätten schon negative Erfahrungen gemacht. Sie vermutet weiter, dass dies am Konsum von Gewaltszenen in den Medien liege.
Besonders betroffen seien auch Migrantinnen, was sie auf ihrer Arbeit erlebe. Erstens sei das Sprechen über sexualisierte Gewalt für viele ein grosses Tabu –ein viel grösseres als über physisch ausgeübte Gewalt. «Viele sind mit der Wertvorstellung aufgewachsen, dem Mann bedingungslos zur Verfügung zu stehen.» Grosses Problem ist weiter, dass sich Frauen ohne Aufenthaltsrecht oder solche, deren Aufenthaltsrecht an die Papiere des Mannes geknüpft sind, nicht trauen, Hilfe zu holen, aus Angst vor einer Ausschaffung.
Doch es sind längst nicht nur Migrantinnen, die sich davor scheuen, ihre erlebte sexualisierte Gewalt publik zu machen oder zu einer Anzeige zu bringen. Laut der Opferberaterin Agota Lavoyer haben sehr viele Menschen falsche Bilder über Opfer und Täter im Kopf, auch die Opfer selbst. «Viele sind deshalb unsicher, ob es überhaupt sexualisierte Gewalt war», so Lavoyer. Ringen sich die Frauen trotz allem durch, das Erlebte jemandem zu berichten, dann erhielten viele sehr schlechte Reaktionen darauf.
Nur Ja heisst Ja
Eines der erklärten Ziele der Organisatorinnen und Aktivistinnen ist die Anpassung des Sexualstrafrechts. «Nur Ja heisst Ja», zitiert Michelle Gisiger den Slogan des Konsensprinzips, wie Schweden es eingeführt hat. «Die Absenz eines Neins bedeutet nicht automatisch ein Ja zu sexuellen Handlungen», fährt Gisiger fort. Aktuell ist der Strafbestand einer Vergewaltigung nur dann erfüllt, wenn zusätzliche Gewalt angewendet wurde und das Opfer sich wehrte. Das ist aber längst nicht immer der Fall:«Freezing», also eine Art Schockstrarre, ist eine häufige Reaktion auf sexualisierte Gewalt.
Eine weitere Forderung ist die Schaffung eines nationalen 24-Stunden-Beratungsangebots für Gewaltbetroffene in verschiedenen Sprachen. Im Frühjahr hatte das Parlament zwei Motionen, die dies forderten, angenommen, aktuell wird die Schaffung einer solchen Stelle geprüft. Diese Forderung war auch Teil der Instanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt, die 2017 im Parlament ratifiziert wurde, aber noch nicht umgesetzt ist.
Nationalrätin Tamara Funiciello (SP) sagte am Mittwoch an der Medienkonferenz in Bern, dass zu Beginn der Wintersession Ständerätinnen und Nationalrätinnen aus unterschiedlichen Parteien einen Vorstoss für eine regelmässige nationale Präventionskampagne gegen sexualisierte, häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt einreichen werden. Auch dies als Teil der Instanbul-Konvention. Und ganz im Sinn der Aktion 16 Tage gegen Gewalt an Frauen.
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Die Geschichte der «16 Tage»
Die Aktion 16 Tage gegen Gewalt an Frauen» wurde 1991 vom Women’s Global Leadership ins Leben gerufen.
In der Schweiz werden sie seit 2008 durchgeführt, in Biel wiederum seit drei Jahren.
Sie beginnen jeweils am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, und enden am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte.