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Biel

«Die Kirche hat zur Sexualität noch keine Sprache gefunden»

«Ehe für alle», das Recht auf Abtreibung, Gleichstellung in der Paarbeziehung: Die reformierte Kirche Biel möchte sich auch solchen Themen nicht verschliessen. Der Arbeitskreis für Zeitfragen widmet sich deshalb neu dem Schwerpunkt «Sexualität».

Kommt die «Ehe für alle»? Die reformierte Kirche Biel will den Dialog zu Themen rund um die Sexualität fördern. Bild: keystone

Sarah Zurbuchen

Was fällt uns zum Thema «Kirche und Sexualität» als erstes ein? Meistens sind es Skandale, Fehlverhalten oder Abnormitäten im kirchlichen Umfeld. Missbräuche seien klar zu benennen und Konsequenzen daraus zu ziehen. «Trotzdem ist Sexualität in der Öffentlichkeit noch immer ausschliesslich ein skandalisiertes Thema, vor allem, wenn es zusammen mit der Kirche genannt wird», sagt Luzia Sutter Rehmann, Studienleiterin des Arbeitskreises für Zeitfragen (AfZ) der reformierten Kirche Biel. Das sei praktisch, man könne dabei über die Kirche lästern und gleichzeitig seine eigenen blinden Flecken verstecken.

«Die reformierte Kirche ist nicht besser als die Gesellschaft in der Schweiz. Aber auch nicht schlechter», so die Theologien. Sie sei lediglich ein Spiegelbild. Ihr geht es auch um den Kampf gegen Diskriminierung von Menschen, die nicht der Norm entsprächen, etwa von queeren Menschen oder von Frauen, die beschnitten werden. Der Weg zur tatsächlichen Gleichstellung aller Menschen in unserem Rechtsstaat sei noch weit, so Sutter Rehmann. «Auch die reformierten Kirchgemeinden haben da noch Verbesserungspotenzial», sagt sie. Und: «Die Kirche hat zur Sexualität noch keine Sprache gefunden.»

Um eine bessere Verständigung zu ermöglichen und den Menschen eine Ansprechstelle zu bieten, widmet sich der Arbeitskreis für Zeitfragen seit Ende 2019 dem neuen Schwerpunkt «Sexualität». Neben der Studienleiterin ist auch Noël Tshibangu Teil des Projekts. Er arbeitet bei «Sexuelle Gesundheit Schweiz» und ist spezialisiert auf interkulturelle Theologie und Migration.

Serie «Vorsicht Tabu»

Ein erster Schritt in diese Richtung ist bereits während des Lockdown geschehen, und zwar mit der Serie «Vorsicht Tabu». In fünf Videobeiträgen führen Fachpersonen Gespräche zum Thema «Ehe für alle». «Wir haben uns bewusst dafür entschieden, weil ‹Ehe für alle› eine politische und gesellschaftliche Zeitfrage in der Öffentlichkeit ist», so die Studienleiterin. Dabei wird auch ein Blick auf die Haltung der Bibel zum Thema Homosexualität geworfen. «In den Gesprächen zeigte sich, auch dank des Inputs der deutschen Theologin Claudia Janssen, dass Zivilstand und sexuelle Orientierung in der Bibel kein zentrales Thema sind.» Man könne also nicht die Bibel ins Feld führen, um ein Menschenrecht zu verhindern.

Ihnen gehe es aber nicht darum, als Kirche ein Ja- oder Nein-Statement zu solchen Themen abzugeben. Vielmehr wolle der AfZ Gespräche fördern, hinschauen, wo bei den Menschen der Schuh drückt und warum. «Oft betrifft ein Thema rund um die Sexualität nicht nur uns oder unseren Partner, sondern auch unsere Familie oder Freunde», sagt Noël Tshibangu. Ein Beispiel sei das Outing eines homosexuellen Menschen, das manchmal auch das Umfeld fordere.

Natürlich sind sich Sutter Rehmann und Tshibangu bewusst, dass es wie bei vielen Themen auch bei der Sexualität um tief verankerte Weltbilder geht, die von Tabus durchsetzt sind. «Und Tabus sind mit Vorsicht zu behandeln, deshalb wollen wir das Thema mit Respekt und Sorgfalt angehen», so die Theologin.

So stellt sich den beiden Projektleitern auch die Frage, wie denn die Leute am besten erreicht werden können. «Wir können nicht einfach einen Diskussionsabend zum Thema Sexualität organisieren, da würden wohl nur wenige kommen», sagt sie. Ein Blog hingegen habe eine tiefere Schwelle, da könne man mal unverbindlich reinschauen. Eine weitere Video-Serie ist übrigens bereits in Planung.

Thinktank zum Thema

Der Arbeitskreis für Zeitfragen hat ausserdem begonnen, einen Thinktank «Sexualität im kirchlichen Kontext» aufzubauen. Seit ein paar Monaten treffen sich dazu zwölf Personen aus verschiedensten Lebensbereichen. «Mit dabei sind etwa Mütter, LGBTIQ-Aktivisten, Leute aus dem Gesundheitsbereich oder auch Pfarrpersonen und Menschen unterschiedlicher Konfessionen», so Tshibangu. Die Gespräche gestalteten sich sehr interessant. «Wir als Kirche wollen nicht im luftleeren Raum arbeiten und brauchen Resonanz von verschiedenen Seiten. In diesem Thinktank ist eine Entwicklung möglich, und wir alle können etwas aus dieser Auseinandersetzung lernen.»

Geplant ist zudem eine Ausstellung mit Fotografien zum Thema Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen, «auch ein grosses Tabu», sagt Sutter Rehmann. Und in Zukunft könnte sich das Projektteam auch öffentliche Anlässe zu einem bestimmten Thema vorstellen.

Vernachlässigtes Thema

Mit dem Thema Sexualität nimmt sich der AfZ einem Thema an, das in der Kirche lange Zeit vernachlässigt wurde. Die reformierte Kirche Biel möchte mit dem neuen Kernthema signalisieren, dass sie sich auch vermeintlichen Tabuthemen nicht versperrt. «Wir möchten Ansprechpartner sein für Menschen, die ihre diesbezüglichen Anliegen bei uns deponieren möchten.»

Es gehe auch um neue Entwicklungen, bei denen die Kirche Schritt halten will. Was, wenn heiratswillige Schwule oder Lesben kirchlich heiraten wollen? Wohin können sie sich wenden? «Für solche und andere Fragen möchte der Arbeitskreis künftig Hand bieten», so Noël Tshibangu. «Und zwar nicht nur für Schweizerinnen und Schweizer, sondern auch für die Migrationsbevölkerung.»

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Haben Josef und Maria offiziell geheiratet?

Geneva Moser, Noël Tshibangu und Luzia Sutter Rehmann entwickelten den Blog «Vorsicht Tabu» – Videogespräche zu Bibel, Kirche und Sexualität. Sie beginnen ein Gespräch über ein heisses Thema, dazwischen wird die Bibel genau befragt, was sie dazu zu sagen hat.

Folge 1: Ein Gespräch beginnt

Folge 2: Sätze aus der Bibel sollten nie aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Wenn Paulus homosexuelle Praktiken kritisiert, dann tut er dies im Zusammenhang mit seiner Kritik am Kaiserkult, am Herrschaftskult und der Verehrung des Herrschens.

Folge 3: Eine pointierte Zeitfrage ist, ob die Eheschliessung allen Menschen in der Schweiz offen stehen soll. Es war noch nie so in der Schweiz, dass alle, die wollen, auch heiraten können. Lange Zeit musste man Geld haben, um heiraten zu dürfen.

Folge 4: Die Evangelien interessieren sich kaum für den Ehestand. Haben Josef und Maria je offiziell geheiratet? Und die Jünger?

Folge 5: Wir müssen reden. Wenn sich etwas ändern soll in Sachen Gleichstellung in Paarbeziehungen, dann müssen die betroffenen Paare miteinander darüber sprechen. sz

Info: Den Blog «Vorsicht Tabu» finden Sie hier: www.compass-bielbienne.ch

Stichwörter: Sexualität, Kirche, Religion

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