Sie sind hier

Weihnachtsgeschichte

Die Wunschliste – eine Weihnachtsgeschichte

Liebe Leserinnen und Leser, mit dieser Weihnachtsgeschichte wünschen wir Ihnen ein frohes Fest und hoffen, Sie können die Zeit im Kreise der Familie und mit Ihren Liebsten geniessen.

Weihnachtsbild von Matthias Käser/Bieler Tagblatt

von Parzival Meister

«Wunschliste.» Mehr steht nicht auf dem karierten Papier ihres Schreibblocks. Von all den Buchstaben, die sie in den letzten 30 Minuten mit dem Bleistift niedergekritzelt und wieder ausradiert hat, sind nur noch feine Konturen zu erkennen. Die 9-jährige Alessia liegt auf dem flauschigen, weissen Teppich im Wohnzimmer und starrt noch immer auf ihren Block. Die Dämmerung setzt ein, doch das schummrige Licht reicht aus, um zu erkennen, dass sich auf dem Papier noch immer keine Sätze gebildet haben. In der Küche läuft das Radio, Mama hört ihre «Goldies» und singt zwar nicht laut, aber doch herzhaft mit. Der Duft der Bolognese-Sauce, die in der Pfanne köchelt, strömt ins Wohnzimmer und überdeckt den Nadelgeruch der Weihnachtstanne. Jetzt bemerkt Alessia den hölzernen Geschmack in ihrem Mund. Sie betrachtet den Bleistift und sieht die Kerben ihrer Zähne. In Gedanken versunken hat sie die letzten 30 Minuten auf diesem Stift herumgekaut.

Alessia lässt den Bleistift fallen, springt auf und schüttelt sich durch, als wolle sie aus einer Art Trance erwachen. Warum nur kommt ihr keine Idee? Es ist doch jedes Jahr dasselbe. In den Wochen vor Weihnachten schreibt sie ihren Wunschzettel und bespricht ihn dann mit Papa. Ja, mit Papa. Sie schickt ihn nicht mehr dem Christkind. Seit vier Jahren nicht mehr. Seit sie weiss, dass nicht das Christkind den Zettel liest, sondern eben Papa. Das Ritual ist dasselbe – und doch ist dieses Jahr irgendwie alles anders. Alessias Vater hat sein eigenes Geschäft eröffnet. Irgendetwas mit Werbung macht er, so viel weiss Alessia. Es muss etwas Schwieriges sein, diese Werbung. Denn seit ihr Papa im Frühling sein eigenes Büro eröffnet hat, ist er kaum mehr zu Hause. Und Mama macht nicht mehr nur den Haushalt, sondern hilft ihm fast täglich in seinem Büro. Wenn die beiden dann mal zu Hause sind, streiten sie. Es geht immer um dasselbe: um Geld. Das Geld sei knapper geworden, man müsse zuerst investieren, bevor man verdienen könne, hatte der Vater seiner Tochter erklärt, als er ihr beibrachte, dass die Sommerferien in Italien dieses Jahr ausfallen würden. Und er erklärte es ihr immer wieder, wenn sie sich wieder etwas wünschte. Enttäuscht war Alessia selten, wenn sie etwas nicht bekam, was sie sich wünschte. Doch sie hasste es, während der Erklärung in Papas Gesicht zu blicken. Denn er versuchte zwar zu lächeln, doch dabei gingen nur seine Mundwinkel nach oben, seine Augen bleiben leer und traurig.

Wünsche, ja, davon hätte Alessia viele. Doch sie will ja nicht das Familienbudget sprengen. Und ganz sicher will sie nicht in diese traurigen Augen ihres Papas blicken, wenn er ihre Wunschliste durchliest und dann wieder versucht, die Sache mit dem Familienbudget zu erklären. Alessia geht in ihr Zimmer, öffnet ihre rappelvolle Spielzeugkiste und wühlt in den unzähligen Sachen, die sich über die Jahre angehäuft haben. Sie öffnet den Schrank und blickt auf all die Lego-Kisten, Puppenkleider, Barbies und sonstigen Spielsachen, die ihr Mama und Papa über die Jahre geschenkt haben. Plötzlich bleibt sie wie erstarrt stehen. Wie ein Blitz ist er aufgetaucht, der Gedanke, der ihr Gesicht erstrahlen lässt. Endlich weiss sie, was sie sich zu Weihnachten wünscht. Sie will nicht 1000 Geschenke. Sie hat nur einen einzigen Wunsch. Einer, bei dem das Familienbudget keine Rolle spielt.

Als sie ihr Zimmer durchforstet hat, hat sie sich ihr Spielzeug angeschaut und überlegt, welche ihr die grösste Freude bereitet haben. Das grösste Grinsen ins Gesicht gezaubert haben ihr zwei Entdeckungen: Das war, als sie die schwarze Kiste mit den pinkfarbenen Stickern im Regal unten links hervorzog und die vielen Puppenkleider entdeckte, die dort lagerten. Und es war, als sie die Lego-Kiste ganz oben im Schrank sah – die grosse mit dem Prinzessinen-Schloss. Bei diesen beiden Dingen erinnerte sich Alessia zwar nicht daran, wie sie sie ausgepackt hatte. Aber sie erinnerte sich, wie sie mit Mama den ganzen Sonntag Modeschau spielte. Die beiden zogen Alessias Puppen etwa 1000 Mal um, machten ihnen Frisuren und funktionierten den Stubentisch zum Laufsteg um. Und sie erinnerte sich daran, wie sie mit Papa stundenlang am Küchentisch sass und sie versuchten, der Anleitung für dieses Prinzessinen-Schloss zu folgen. Fast verzweifelt sind sie ob dieser Aufgabe. Doch sie waren unglaublich stolz, als sie am Ende des Tages ihr Werk betrachteten.
Alessia rennt ins Wohnzimmer, stellt die Stehlampe an, legt sich auf den flauschigen Teppich und beginnt zu schreiben.

Liebe Mama, lieber Papa

Es ist mir egal, dass wir nicht mehr so viel Geld haben und Ihr mir nicht mehr alles kaufen könnt. Es ist mir auch egal, dass wir nicht mehr nach Italien in die Sommerferien fahren können. Ich kann auf alles verzichten, ausser auf Euch.

Ich wünsche mir zu Weihnachten deshalb nur etwas. Ich wünsche mir Zeit. Alles, was ich will, ist gemeinsame Zeit mit Euch.

Ich hab Euch lieb, Alessia

 

Nachrichten zu Biel »