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Editorial

Durch den Pandemieherbst getaumelt

Vor zwölf Monaten haben viele von uns aufgeatmet: Endlich ist das Seuchenjahr 2020 vorbei! 2021 würde alles besser werden. Und danach sah es vordergründig auch aus. So kann man sich täuschen.

Lino Schaeren
, Chefredaktor


Zwar wurde mit der Impfung die Normalisierungsphase ausgerufen, wir sind jedoch immer noch gefangen in der Pandemie-Dauerschleife. Mehr noch: Mit der Omikron-Welle laufen wir Gefahr, das bereits heute am Anschlag agierende Gesundheitssystem vollends zu überlasten. Klar: Diese ansteckende Variante des Virus hat niemand kommen sehen. Dennoch ist es bezeichnend für die Schweizer Pandemiepolitik, dass uns mit Omikron bereits die nächste Welle überrollt, ehe die vorausgegangene richtig gebrochen wurde. Auch das ist Teil der Pandemie-Dauerschleife: Die bundesrätliche Politik zeichnet sich aus durch Abwarten, während in anderen Ländern gehandelt wird.

Dabei funktionierte diese Strategie ganz ordentlich, ist die Schweiz doch lange vergleichsweise gut durch diese Krise gekommen. Spätestens seit die Delta-Variante diesen Herbst überhandgenommen hat, ist das anders. Die Schweizer Politik handelt trotz unmissverständlicher Warnungen der Expertengremien zu oft zu spät. Dass viele Intensivstationen zu Beginn der Omikron-Welle dank Delta-Patienten bereits voll sind, könnte dazu führen, dass harte Triage-Entscheide unumgänglich werden. Und dass die Booster-Impfung nicht viel früher massiv forciert wurde, könnte uns jetzt schmerzhaft auf die Füsse fallen. Dass die letzten Wochen mit Nachdruck zur Auffrischungsimpfung aufgerufen wurde, im ganzen Seeland vor den Feiertagen wegen Personalmangel aber kaum ein Termin zur Verfügung stand, ist unsäglich.

Ja, es hat mitunter mit unserem in einer Krise trägen föderalistischen System zu tun, dass in der Schweizer Pandemiebekämpfung alles länger dauert. Das hat seine guten Seiten: Dass der Bundesrat einschneidende Massnahmen jeweils bei Kantonen und Sozialpartnern in Konsultation gibt, sorgt für scheinbar massvolle und für viele tragbare Lösungen. Das Vorgehen fördert zwar den Kantönligeist, erhöht gleichzeitig aber die Akzeptanz. Und das sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Kantonen.

Nur mit dem Föderalismus lässt sich das bundesrätliche Taumeln durch den Pandemieherbst aber kaum erklären. Im Vorfeld der zweiten Abstimmung zum Covid-Gesetz Ende November machte es den Anschein, als liesse sich der Bundesrat von den lauten Gegnerinnen und Gegnern lähmen. Die angebliche tiefe Spaltung der Gesellschaft, so entstand der Eindruck, sollte vor dem Urnengang nicht durch unpopuläre Entscheide weiter befeuert werden. Doch der Widerstand wurde überschätzt. Er war giftig, aber bei Weitem nicht mehrheitsfähig. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist intakt, das Schreien nach der grossen Spaltung eine Mär. Es handelt sich viel mehr um die Abspaltung einer teils radikalisierten Minderheit.

Natürlich gibt es Gräben, die im Verlaufe der Pandemie grösser und tiefer geworden sind. Und die aufgrund sozialer Polarisierung Anlass zur Sorge geben. Sie spalten unser Land aber nicht in zwei gleich grosse Hälften. Eine solide Mehrheit unterstützt die Pandemiepolitik, knapp 70 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind gegen Covid-19 geimpft. Und das Vertrauen in die Wissenschaft ist tendenziell weiter gestiegen. Zur Zerreissprobe werden die Gräben, die nicht einfach entlang von Parteilinien verlaufen, dennoch. Und zwar in unseren privaten Mikrokosmen. Sie gehen stärker als in vielen anderen politischen Debatten mitten durch Familien und Freundeskreise. Wie belastend das sein kann, zeigte sich vieler Orts an den Familienfesten zu Weihnachten.

Entspannung wird wohl erst das Ende der Pandemie bringen. Und tatsächlich gehen Fachpersonen davon aus, dass mit der hochansteckenden Omikron-Variante 2022 der Übergang in die endemische Phase gelingen könnte. Zuvor aber müssen wir diese sechste Welle überstehen. Und die wird gemessen an den Fallzahlen heftiger als alle zuvor. Trotzdem hält der Bundesrat auch in der Altjahreswoche an seiner Taktik fest: Während mehrere Kantone laut nach Verschärfungen rufen, zieht es die Landesregierung vor, die Wirksamkeit der vor Weihnachten beschlossenen Massnahmen abzuwarten. Der Bundesrat will erst handeln, wenn mehr Daten zur Gefährlichkeit von Omikron vorliegen. Er ist damit nicht alleine: Derzeit zögern auch Staaten, die bisher für rigides Vorgehen bekannt waren. So verzichtete etwa Frankreich trotz explodierender Fallzahlen vorerst auf harte Massnahmen. Die Schweizer Taskforce warnte diese Woche jedoch davor, die neue Variante wegen Anzeichen auf mildere Verläufe zu unterschätzen. Der Grund: Omikron ist so ansteckend, dass es unter dem Strich doch zu mehr Spitaleinweisungen kommen könnte. Der Bundesrat geht mit seinem Zuwarten ein Risiko ein: Neue Massnahmen würden sich verzögert und daher allenfalls zu spät auf die Spitäler auswirken.

Zumindest in Biel ist im Spitalzentrum der Omikron-Sturm bisher noch ausgeblieben. Die Zahl der Covid-Patientinnen und -Patienten ist trotz der in die Höhe schnellenden Fallzahlen noch rückläufig. Die Sorge gilt derzeit deshalb nicht primär der Patientenzahl, sondern dem Personal: Was, wenn es wegen Omikron zu vielen Ausfällen kommt? Wird durch Krankheitsfälle die öffentliche Versorgung gefährdet, bliebe als Notnagel wohl nur die Armee.

Die Lage zum Jahresende ist also erneut angespannt. Und dennoch stehen wir trotz Dauerschleife nicht am selben Ort wie noch vor zwölf Monaten. Damals blieb nur der Shutdown, um den Kollaps zu verhindern. Heute haben wir die Impfung. Und diese schützt, wenn sie frisch ist, offenbar auch ordentlich gegen Omikron. Nebst den übrigen gängigen Verhaltensregeln ist zum Jahresende deshalb einmal mehr Impfen das Gebot der Stunde. Dafür müssen die nötigen Möglichkeiten in Form von Terminen für die Bevölkerung geschaffen werden. Niederschwellig und lokal. Daran hapert es aber einmal mehr. Auch das ein Umstand, der uns in diesem Pandemiejahr schon lange begleitet hat.

lino.schaeren@bielertagblatt.ch

Lino Schaeren
, Chefredaktor

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