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Standpunkt

Ein Kanton im Blindflug

Gouverner, c’est prévoir, heisst es so schön. Das gilt auch für Bildung. Enseigner, c’est prévoir, sozusagen.

Lukas Rau, Blattmacher und angehender Primarlehrer

Und so sagte eine erfahrene Lehrerkollegin, die im Zimmer nebenan unterrichtet, am letzten Montagmorgen: «Ich habe übers Wochenende für die Klasse Heimdossiers für die Woche vor Weihnachten vorbereitet.» – «Warum das?», fragte ich – überhaupt nicht erfahren und in einer Stellvertretung. Denn da war noch von Dienstag, 21. Dezember, als letztem Schultag die Rede. «Ich rechne fest mit Freitag als letztem Schultag», sagte meine Kollegin. Und nun ist es so weit. Morgen ist der letzte Schultag des Seuchenjahres 2021. Meine Kollegin kann ihre Dossiers aus dem Ärmel schütteln, damit sich ihre Ersteler und Zweiteler auch nächste Woche mit Buchstaben und Zahlen beschäftigen können. Denn viele haben schon viel verpasst: Ein Drittel ihrer Klasse wurde innerhalb der letzten zwei Monate positiv getestet.

Andere aber können nichts aus dem Ärmel schütteln.

Zum Beispiel Eltern.

Wie sollen berufstätige Eltern innerhalb von so kurzer Zeit Betreuung für ihre Kinder organisieren? Diese Massnahme orientiert sich an einer Welt, in der in jeder Familie jemand nichts anderes zu tun hat, als zuhause auf die Kinder zu warten.

Die Schulen sind verpflichtet, eine Notbetreuung zu gewährleisten. Vielerorts werden Klassen, die in sich geschlossen waren, durcheinandergemixt. Die grüne Bildungsdirektorin Christine Häsler sagte, dass dies verhindert werde. Wer die räumliche und personelle Realität in den Schulhäusern kennt, weiss, dass dies kaum möglich ist.

Dabei hatte der Kanton seine Massnahme damit beworben, dass diese ein entspanntes Weihnachten zulasse, weil noch genug Zeit zum Testen zur Verfügung stehe. Immerhin wird mit dem vorgezogenen Ferienbeginn der Tatsache Rechnung getragen, dass es mindestens fünf Tage braucht, bis mit Corona infizierte Menschen Symptome entwickeln und positiv getestet werden können. Wo und wann rechtzeitig getestet werden kann, ist jedoch fraglich. Testzentren und Labors sind überlastet.

Es war kaum der einzige Grund dafür, dass der Regierungsrat die Ferien verlängert hat. Denn auch Lehrerinnen und Lehrer müssen in Quarantäne gehen. Einige haben eigene Kinder, die in Quarantäne sind. Einige fallen positiv getestet aus, auch wenn sie geimpft sind.

Willige Stellvertreterinnen und Stellvertreter gibt es im Kanton Bern kaum. Die Personaldecke ist etwa so dick wie Frischhaltefolie. Die Studierenden an der Pädagogischen Hochschule schreiben vor Weihnachten Arbeiten und haben keine Zeit für Stellvertretungen. Andere sind sich selbst lieb, denn sie wissen, was in den verwaisten Klassen lauert. Mit dem frühen Schulschluss zieht der Kanton einem chronisch überlasteten System notfallmässig den Stecker. Wer so reagieren muss, ist nicht gut vorbereitet.

Wie der Personalengpass ist auch die hohe Inzidenz an den Schulen hausgemacht. SVP-Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg gab mit den Pooltests ein eingespieltes System aus der Hand, mit dem die Situation in den Schulen laufend abgebildet werden konnte. Mit den Ausbruchstests war das Zuspätkommen programmiert, auch wenn Schneggs Krisenstab-Chef Raphael Ben Nescher vor drei Wochen in der «Rundschau» etwas anderes behauptete und am Beispiel Graubündens darzulegen versuchte, warum Pooltests nicht funktionieren. Wie sieht es nun aus? Die Delta-Variante rauscht ungehindert durch Berner Schulklassen, während Pierre Alain Schnegg verbissen an seiner Strategie festhält. Die Bündner Kinder treten hingegen planmässig am 23. Dezember ihre Weihnachtsferien an.

Die Berner Entscheidungsträgerinnen und -träger müssen über ihren Schatten springen und die Feiertage nutzen, um die Pooltests wieder einzuführen. Die Bereitschaft, ihre Kinder teilnehmen zu lassen, dürfte bei den Eltern stark gestiegen sein.

Lukas Rau

Blattmacher und angehender Primarlehrer

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