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Prozess

Gewaltexzess wegen Eifersucht und Eitelkeit

Was bringt einen jungen Menschen dazu, auf einen Bewusstlosen einzutreten? Dies bleibt auch nach Abschluss des Gerichtsprozesses unverstanden. Das Gericht befand, dass der Angeklagte sogar den Tod des Opfers in Kauf nahm.

Hier liefen die Augenzeuginnen an ein brutales Verbrechen heran. Copyright: Matthias Käser
Mengia Spahr

In der Silvesternacht vor drei Jahren wurde ein damals 32-jähriger Mann in einer Seitengasse der Bahnhofstrasse in Biel verprügelt. Das Opfer erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma und ist seit dem Vorfall teilinvalid. Was genau passierte, ist in groben Zügen klar: A geriet in einen Streit mit dem Opfer. Es gab ein Gerangel und B griff ein, um seinem Freund zu helfen. Er brachte das Opfer mit einem Faustschlag ins Gesicht und Tritte gegen die Beine zu Fall. Danach hat A auf den am Boden liegenden Mann eingetreten. Augenzeugen berichten von fünf bis zehn Tritten gegen den Oberkörper- und Gesichtsbereich. A spricht von einem Kick. Heute erfolgte die Urteilseröffnung.
 
Nur an eigenem Schicksal interessiert
 
Den beiden mutmasslichen Tätern sieht man ihr fast noch jugendliches Alter an: A ist schlaksig, seine Arme bambeln beim Gehen. B hat seine Haare zum Rossschwanz gebunden. Beide haben auffällige Tattoos am Hals. Nach der Befragung blieb unklar, inwiefern sie Verantwortung für die Tat übernehmen. A sagte zwar aus, dass er traurig gewesen sei, als er die Fotos von den Verletzungen in den Akten sah und dass er wisse, dass er auch dafür verantwortlich sei. Danach gefragt, wie er reagierte, als er erfuhr, dass das spätere Opfer in den Toiletten mit seiner Freundin gesprochen habe, sagte A jedoch: «Normal. Wie alle reagieren würden, wenn jemand nur wartet, bis die Freundin auf die Toilette geht.» Und weiter: «Hätte mich mein Kollege nicht darauf aufmerksam gemacht, wäre nichts passiert.»
 
Der junge Mann zeigte während der Verhandlung wenig Regung. Einzig als Richter Gross ihn darauf aufmerksam machte, dass ihm ein Landesverweis drohen könnte, brach er in Tränen aus.
 
Dies hielt ihm dann die Anklage in ihrem Plädoyer vor. Fürsprecherin Sara Ellen Hübscher sagte, dass sich A nur um seine eigenen Konsequenzen schere und für das Opfer keine Emotionen zustande bringe. Auch Staatsanwältin Alina Raschle vertritt die Ansicht, dass der Beschuldigte mit seinen Aussagen vor allem sich selbst in ein besseres Licht rücken wolle. Sie konnte keine strafmildernden Umstände finden. Von Notwehr könne keine Rede sein. A habe die volle Entscheidungsfreiheit gehabt, ob er zuschlagen wolle oder nicht.
 
Gar straferhöhend wirke sich der Grund für die «äusserst brutale Attacke» an: Wir wären alle nicht da, wenn sich A nicht so darüber aufgeregt hätte, dass das Opfer mit seiner Freundin gesprochen hat», so Raschle.
 
Für die Verteidigerin ist klar, dass sich das Opfer in unmittelbarer Lebensgefahr befunden hat. Es gelte als allgemein bekannt, dass Schläge und Tritte gegen den Kopf lebensbedrohlich sind. Dessen habe sich A bewusst sein müssen. Er habe also vorsätzlich gehandelt und sei wegen schwerer Körperverletzung schuldig zu sprechen. 
 
Was B betrifft, so forderte die Staatsanwältin den Tatbestand der fahrlässigen schweren Körperverletzung erfüllt. Er habe es mit dem überraschenden Faustschlag gegen den Kopf zumindest in Kauf genommen, das Opfer schwer zu verletzen. Da er jedoch von ihm abliess, sobald dieses seinen Freund losliess, habe er nicht vorsätzlich gehandelt. Dennoch: «Bs Verhalten wäre vermeidbar gewesen», so Raschle. Die Staatsanwältin forderte für B eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 Monaten sowie verschiedene Geldbussen, unter anderem für den Konsum von Betäubungsmittel.
 
Für A forderte sie 54 Monate unbedingt sowie ein 8-jähriger Landesverweis. Fürsprecherin Hübscher ging mit ihrem Plädoyer noch weiter. Sie sah bei As «gefühlskalter Vorgehensweise» die Voraussetzungen für den Tatbestand der versuchten Tötung gegeben. B habe seinerseits das Opfer «schutzlos dem Wutexzess seines Freundes überlassen». Es sei dem reinen Zufall zuzuschreiben, dass das Opfer noch lebt. Der Geschädigte werde sein Leben lang teilinvalid bleiben und keine unbeschwerte Beziehung zu seinem Sohn haben können. Hübscher forderte deshalb eine Genugtuung von mindesten 106 000 Franken, welche die beiden Beschuldigten solidarisch zu tragen hätten.
 
Freispruch gefordert
 
Ganz anders sah dies die Verteidigung: Sowohl As Anwältin als auch Bs Anwalt verlangten heute vor Gericht, dass ihre Mandanten freigesprochen werden.
 
As Fürsprecherin, Franziska Marti, sagte gestern ihr Klient habe keinerlei Kontakt zu seiner Familie im Herkunftsland, weshalb eine Ausschaffung nicht in Frage komme. Ausserdem sei zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte nicht vorbestraft ist. Bei der vorliegenden Anklage sei einzig der Straftatbestand des Konsums von Betäubungsmitteln unbestritten, wofür eine Busse von 150 Franken angebracht sei.
 
Was die Geschehnisse in der Silvesternacht betreffe, so gebe es keine gesicherten Informationen zur Anzahl und Heftigkeit der Fusstritte, die A austeilte, so Marti. Der Angeklagte habe immer nur von einem Fusstritt gesprochen. Zeugenaussagen, wonach mehrere sehr heftige Kicks verübt worden seien, stuft sie als unzuverlässig ein: «Eine Zeugin sagt, sie habe nicht gezählt, es sei ein Gefühl – da geht Gehörtes, Gesehenes und nachträglich Besprochenes durcheinander.» Gesichert sei nur ein Fusstritt.
 
Die Ereignisse hätten sich überschlagen, und A habe keine Zeit gehabt, zu überlegen. Ausserdem sei er alkoholisiert gewesen, sagte die Anwältin gestern. Ihrem Mandanten sei nicht bewusst gewesen, was er tat. «A ist sich auch in nüchternem Zustand nicht bewusst, dass ein Fusstritt gegen den Kopf tödlich sein kann. In jener Nacht war er betrunken.»
 
Weiter argumentierte Marti, es gebe keinen Nachweis, dass das Verhalten ihres Klienten den Zustand des Opfers verursacht habe. Schliesslich sei jenes ein «Polizeibekannter Alkohol- und Drogenkonsument» gewesen. Es stelle sich durchaus die Frage, inwiefern etwa die diagnostizierte Bewusstseinstrübung darauf zurückzuführen sei. «Man kann nicht heute schwere Beeinträchtigungen feststellen und daraus schliessen, dass mein Klient für alles verantwortlich ist», so Marti. Da der Heilungsprozess noch nicht abgeschlossen sei, könne man auch keine schwere Körperverletzung nachweisen. Allenfalls sei der Tatbestand einer einfachen Körperverletzung gegeben. Bs Anwalt, Urs Wüthrich führte dann aus, dass jedoch kein gültiger Strafantrag für eine einfache Körperverletzung vorliege und somit beide Mandanten freizusprechen seien. Nachdem das Opfer zu Boden ging, sei die Angelegenheit damit erledigt gewesen. B habe sich entfernt und nicht mehr mitgekriegt, was A daraufhin tat. «Mein Klient konnte nicht ansatzweise davon ausgehen, dass A schliesslich auf den wehrlosen Mann eintritt», so Wüthrich. Der Vorwurf, dass B dessen Schädel-Hirn-Trauma mitverschuldet habe, verhalte nicht. Sein Klient habe zweifellos Tätlichkeiten begangen, im schlimmsten Fall könne von einfacher Körperverletzung die Rede sein, doch für diesen Strafbestand gebe es ja keinen gültigen Antrag, führte der Anwalt aus. Folglich könne sein Mandant nur für den Konsum von Betäubungsmittel schuldig gesprochen werden, ansonsten  habe ein Freispruch zu erfolgen.
 
Herausfordernde Antworten
 
Doch das Gericht war anderer Ansicht: Gerichtspräsident Markus Gross fand, dass sehr wohl ein gültiger Strafantrag für einfache Körperverletzung vorliege. Sich darauf zu berufen, dass in einem Formular das Häkchen an der betroffenen Stelle nicht gesetzt sei, sei spitzfindig.
 
In seinem Urteil zerpflückte der Richter das Argument der Verteidigung, wonach die Zeugenaussagen unzuverlässig seien. Im Gegenteil handle es sich um äusserst glaubhafte Aussagen: Zwei der Zeugen seien noch in den frühen Morgenstunden nach der Tat befragt worden, eine dritte Zeugin am Nachmittag desselben Tages. Sie hätten sich demnach nicht absprechen können und in den Aussagen hielten die Zeuginnen genau auseinander, was sie selbst gesehen, nicht gesehen und gehört haben. «Das sind absolut reflektierte Zeugen», so Gross. Ausserdem decke sich die Aussage einer Zeugin, wonach der Täter einen abschliessenden Tritt von oben nach unten gegen den Kopf des Opfers gerichtet habe, mit Bs Beobachtung, als dieser zu seinem Freund zurückging.
 
As Aussagen seien hingegen wenig glaubhaft, urteilte der Richter. An der ersten Befragung habe er sich kaum an etwas erinnern wollen – so betrunken und bekifft sei er gewesen. Im Verlauf der Untersuchung seien seine Ausführungen dann immer präziser geworden. Bis am ersten Prozesstag noch eine letzte markante Aussageänderung hinzu gekommen sei, indem der Beschuldigte plötzlich davon sprach, dass das Opfer seiner Freundin Kokain angeboten haben. «Das haben wir nach zwei Jahren Verfahren zum erstenmal gehört», so Gross.
 
A habe während den Befragungen teils Dinge beschönigt, «herausfordernde Antworten» gegeben und «angriffige Gegenbehauptungen» in den Raum gestellt. Seine Aussagen seien im Allgemeinen wenig konstant, widersprüchlich, bagatellisierend und prozesstaktisch motiviert.
 
Nicht nachvollziehbar
 
Das Gericht kam gestern aufgrund der Zeugenaussagen zum Schluss, dass A mindestens fünfmal auf das Opfer eingetreten habe, als dieses längst bewusstlos am Boden lag. Arztberichte stützen diese Annahme. «Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Verletzungen durch etwas anderes als die Gewalteinwirkungen gegen Kopf entstanden sind, und es ist auch klar, wo und wann sie entstanden», so Gross.
 
Das Gericht kam zum Schluss, dass jemand, der «so extrem gewalttätig gegen den Kopf eines Bewusstlosen eintritt», dessen Tod in Kauf nimmt. Zumal der Kopf auch noch gegen den Boden und eine Wand lag und somit die Schläge nicht abgefedert werden konnten.
 
«As Handlungen sind nicht nachvollziehbar», befand der Richter. Strafmildernd wirke sich einzig das Teilgeständnis aus. Das Gericht verurteilte A zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 51 Monaten und einer Übertretungsbusse von 200 Franken wegen Betäubungsmittelkonsum. Da kein schwerer persönlicher Härtefall vorliege, wurde für den in der Dominikanischen Republik geborenen Mann eine Landesverweisung von sechs Jahren verhängt.
 
Deutlich milder fiel die Strafe für B aus. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der junge Mann ins Geschehen eingriff, da er seinem Freund helfen wollte. Die Beweggründe für die Tat seien also leicht zu seinen Gunsten zu gewichten. Gerichtspräsident Gross hielt indes fest, dass es eine völlig ungeeignete Reaktion sei, einen Faustschlag auf das Gesicht des Opfers zu richten. Mit diesem Schlag sei das Opfer k. o. gegangen und in der Folge am Boden liegen geblieben. Wenn man nun aber den Straftatbestand der fahrlässigen schweren Körperverletzung als gegeben erachten wolle, müsste man B unterstellen, dass dieser Grund hatte, davon auszugehen, dass sein Kollege dermassen hemmungslos auf das Opfer einwirken würde, sagte Gross. «Das war für ihn schlicht nicht vorhersehbar.» Das Gericht sprach B deshalb der einfachen Körperverletzung schuldig. Strafmildernd wirkte sich aus, dass er ein Geständnis abgegeben hatte. Zwar habe auch er anfangs «Erinnerungsschwierigkeiten gehabt», aber er habe seine Taten dann recht schnell eingestanden, sagt Gross. Insgesamt attestiert der Gerichtspräsident dem jungen Mann, auf gutem Wege zu sein: «Er hat sich Mühe gegeben, wieder Arbeit zu finden, ist umgezogen.» B wurde zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt sowie zu einer Übertretungsbusse von 200 Franken.
 
Obwohl die Beschuldigten ihre Mitwirkung grundsätzlich eingestanden hätten, habe das Gericht zwischenzeitlich den Eindruck gehabt, dass die beiden nicht realisiert haben, was für ein grosses Unheil sie angerichtet haben, sagte Gross. Für die Bestimmungen des Schadenersatzes und der Genugtuung verwies das Gericht die Parteien auf den Zivilweg. Gegen das Urteil kann innert zehn Tagen Berufung angemeldet werden.
 
Stichwörter: Regionalgericht, Prozess

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