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Biel

«Hier geht es um Ware, nicht um Menschen»

Die Kläger im Bieler Menschenhandel-Prozess sind sich einig: Wie die beschuldigte Thailänderin mit den Prostituierten umgegangen ist, sei absolut unmenschlich. Die Staatsanwältin fordert für sie zwölf Jahre Gefängnis.

Symbolbild: Keystone

Lino Schaeren

Keine Freizeit, geschweige denn Ferien: Während 24 Stunden an sieben Tagen die Woche hätten die Prostituierten einsatzfähig sein müssen. Obwohl die Beschuldigte Thailänderin im Bieler Menschenhandel-Prozess die Zivilforderungen vollumfänglich anerkennt, haben die Vertreterinnen der Privatklägerschaft gestern die Chance genutzt, in ihren Plädoyers den Opfern in dieser Verhandlung ein Gesicht zu geben. Zwar hatten vier der Sexarbeiterinnen, die von der Beschuldigten in die Schweiz geschleust und an diverse Bordelle vermittelt worden sein sollen, diese Woche am Regionalgericht ausgesagt. Die Öffentlichkeit war von diesen Befragungen aber ausgeschlossen.

Die Geschichten der Privatklägerinnen im, zumindest was die Opferzahl betrifft, grössten Menschenhandel-Prozess, den die Schweiz je gesehen hat, sind ähnlich: In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, haben sie nie eine Ausbildung abgeschlossen. Wegen Schicksalsschlägen in der Familie, oft aber auch schlicht deshalb, weil sich die Eltern hoch verschuldet haben, mussten die Thailänderinnen bereits früh für das finanzielle Überleben der Familie sorgen. Den Ausweg sahen sie in der Prostitution, was die Beschuldigte gnadenlos ausgenutzt haben soll: Sie habe sie mit erschlichenen Touristen-Visa in die Schweiz geschickt. Der erhoffte Ausstieg aus den Schulden sei für die Prostituierten aber zur neuen Schuldenfalle geworden – anstatt Geld nach Hause schicken zu können, hätten sie nun die «Reiseschulden» von bis zu 30 000 Franken bei der Angeklagten abarbeiten müssen.

Zwar hätten die Privatklägerinnen von den Schulden gewusst, nicht aber davon, in welchem Modus ihr Verdienst in den Studios aufgeteilt würde: 50 Prozent für die Bordellbesitzerin, 50 Prozent für die Gläubigerin. Faktisch mussten die Prostituierten also bis zu 60 000 Franken erarbeiten, bis sie tatsächlich Geld für den eigenen Gebrauch erwirtschaften konnten. Und das zu «völlig unmenschlichen Bedingungen», wie die Privatklägerschaft ausführte: So hätten teils drei Personen zusammen in demselben Zimmer schlafen müssen, in dem sie auch zu arbeiten hatten. Kam mitten in der Nacht ein Freier, hätten jene, die ihn nicht zu bedienen hatten, draussen warten müssen.

 

«Der Kopf, der Mastermind»
Von den Bedingungen in der Schweiz hätten die Sexarbeiterinnen erst vor Ort erfahren, auch habe sie zuvor niemand aufgeklärt, dass sie sich illegal im Land aufhalten und arbeiten würden. «Die Beschuldigte hat über die Opfer verfügt, wie sie wollte. Hier geht es um Ware, nicht um Menschen», sagte Rechtsanwältin Julia Roder.

Die Privatklägerinnen würden entsprechend bis heute unter ihrer Zeit als illegale Prostituierte in der Schweiz leiden. Von psychischen und körperlichen Problemen, ja sogar von Suizidversuchen und -gedanken war gestern die Rede. Und die Anwältinnen aller Privatklägerinnen gaben an, ihre Mandantinnen würden sich vor Repressalien fürchten. «Sie hat fürchterliche Angst, dass ihrer Familie in Thailand etwas passiert, weil ‹Ma’am› so gut vernetzt ist», sagte Fürsprecherin Franziska Schnyder exemplarisch für eines der Opfer. «Ma’am», so wird die Beschuldigte im thailändischen Rotlichtmilieu genannt. Angst vor Vergeltung hätten die Opfer deshalb, weil sie aktenkundig gegen die heute 58-jährige Thailänderin ausgesagt haben, so die Privatklägerschaft. Und weil es sich bei «Ma’am» laut Anklage eben nicht einfach um irgendjemanden in der Szene handelt.

Zwar habe die Beschuldigte ausgesagt, nur «ein kleines Rädchen, das Prostituierten geholfen hat, ein besseres Leben zu führen» zu sein, wie Staatsanwältin Annatina Schultz in ihrem Plädoyer sagte. Das sei aber äusserst zynisch, wenn man bedenke, wer in der ganzen Geschichte am meisten profitiert habe: Nämlich «Ma’am». Schon 2012 habe sich ergeben, dass es sich bei ihr um eine Drahtzieherin in der Menschenhandelskette handelt, so die Anklägerin.

Tatsächlich seien die Bedeutung und die Dimension dieses Strafverfahrens absolut aussergewöhnlich: «Es ist vermutlich erstmals in der Schweiz gelungen, eine Drahtzieherin aus Thailand dingfest zu machen», so Schultz. Bei der Gefassten handle es sich um das erste Glied einer Kette, man habe es hier nicht nur mit einer Person aus der Nähe einer Organisation zu tun, hier sitze die Organisation in Person. «Sie ist der Kopf, der Mastermind.»

 

«Die Spitze des Eisbergs»
«Ma’am» wurde im September 2014 am Flughafen Zürich verhaftet, als sie nach einem Kurztrip in die Schweiz zurück nach Bangkok reisen wollte. Die Strafverfolgungsbehörden hatten von ihrer Reise Wind bekommen, hatten die Beschuldigte observiert, ihr Telefon abgehört – und dann zugeschlagen. Zeitgleich hätten mehrere Interventionen in Bordellen stattgefunden, erklärte die Staatsanwältin gestern, dabei habe man 15 illegale thailändische Prostituierte vorgefunden, neun davon seien durch «Ma’am» ins Land geschleust worden. Was dann folgte, waren etliche Befragungen; alleine die Beschuldigte wurde in den letzten Jahren 31-mal einvernommen. Die Akten umfassten schliesslich zum Zeitpunkt der Anklageerhebung im Juli 2017 ganze 53 Bundesordner.

Dennoch glaubt Schultz, mit ihrer Anklage nur die Spitze des Eisbergs zum Vorschein gebracht zu haben. Darauf lasse schon nur ihre Vorgeschichte schliessen. 2005 sei der Menschenhändlerin in Manchester die Einreise verweigert worden, weil sie versucht habe, eine Frau ins Land zu schleusen. 2008 tauchte die Beschuldigte denn auch in Italien in Untersuchungsakten auf. In Hongkong sei «Ma’am» zudem mehrere Monate in einem Hochsicherheitsgefängnis eingesessen. Und 2011 schliesslich sei ein Verfahren wegen Kreditkartenmissbrauch in Thailand gegen sie geführt worden; man habe sie unter anderem mit 15 Pässen in der Handtasche erwischt. «Es gibt viel mehr Betroffene, als hier angeklagt sind», ist Schultz deshalb überzeugt.

In ihren Anträgen musste sie sich allerdings auf das beschränken, was sie vor Gericht gebracht hatte. Und dafür fordert die Staatsanwältin eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren, zudem eine Geldstrafe von 200 Tagessätzen à 30 Franken bedingt mit einer Probezeit von zwei Jahren.

 

«Faktenlage ist zu dünn»
Die Strafe für seine Anträge halbiert hat hingegen der amtliche Verteidiger Philipp Kunz: Er verlangt in 75 der zur Anklage gebrachten Fälle von Menschenhandel einen Freispruch für seine Mandantin. Unter den 13 Fällen, für die auch er einen Schuldspruch fordert, finden sich die neun Privatklägerinnen. Staatsanwaltschaft und Privatklägerschaft hätten eindrücklich plädiert, dort, wo die Schicksale der Opfer tatsächlich nachvollziehbar seien, so Kunz. In den meisten Fällen stelle er aber in Abrede, dass der Vorwurf des Menschenhandels nachgewiesen werden könne. «Ich kann keine Ausnützung einer besonderen Hilflosigkeit oder eines Machtgefälles und auch keine Täuschung erkennen», sagte er gestern immer und immer wieder.

Die Angaben der Anklägerinnen, dass die Prostituierten aus ärmlichen Verhältnissen stammen würden und keine andere Wahl gehabt hätten, als sich in Schuldknechtschaft zu prostituieren, liess er nicht gelten. Kunz sagte mit Verweis darauf, dass man die Lebensumstände der meisten Opfer gar nicht kenne: «Man kann nicht einem ganzen Volk kollektiv die Selbstbestimmung aberkennen.»

Die Faktenlage sei in den meisten Fällen einfach zu dünn. Trotzdem hielt auch der Verteidiger fest, dass es sich um einen «schweren Fall von Menschenhandel» handle. Folgt das Regionalgericht unter dem Vorsitz von Präsident Markus Gross seinen Anträgen, wäre die Beschuldigte wohl schon bald wieder frei. Sie sitzt bereits seit vier Jahren im Gefängnis. Gibt das Gericht hingegen der Anklage recht, droht der mutmasslichen Drahtzieherin noch ein langer unfreiwilliger Aufenthalt in der Schweiz.

Das Urteil wird am kommenden Mittwoch in Biel eröffnet.

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