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Anna Dorothea Keller-Brand

«Ich erfahre von erschütternden Schicksalen»

Sie begleitet seit langem Gewaltopfer und hört dabei von grossem Leid: die Bieler Psychotherapeutin Anna Dorothea Keller-Brand. In Schulen und der Gesundheitspolitik fordert sie konkrete präventive Massnahmen. Und mehr Bewusstheit jedes Einzelnen.

«Gewalt kann sich offen, aber auch sehr subtil äussern»: Psychotherapeutin Anna Dorothea Keller-Brand.  copyright: matthias käser/bieler tagblatt
  • Dossier

Interview: Sarah Zurbuchen

Anna Dorothea Keller-Brand: Was halten Sie von der momentanen Debatte rund um Sexismus und Gewalt an Frauen?
Anna Dorothea Keller-Brand: Grundsätzlich finde ich es sehr wichtig, dass diese Debatte geführt wird. Die Diskussion muss stark daher kommen, meinetwegen auch polarisierend, sonst wird sie nicht wahrgenommen und kann nichts in Gang setzen. Die echte Revolution in diesem Thema wird aber nur die sanfte, bewusste sein. Denn wo Gewalt ist, äussern sich unbewusst Hass, Wut und Macht, Verunsicherung und Gleichgültigkeit.
 
Kritische Stimmen sehen darin eine Art Hexenjagd auf Männer.
Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass keine Feindbilder produziert werden, es gibt nicht die «bösen» Männer, und wenn, liegt ihr sogenanntes «Bösesein» auch in der Mitverantwortung der Frauen, die sie miterzogen haben. Auch die Familie ist letztlich nur die kleinste Zelle der Gesellschaft. Gewalttätig ist ja auch nur ein Teil der Männer. Ausserdem gibt es ebenso Männer, die über die berichteten Übergriffe genauso erschrecken wie wir Frauen.


Trotzdem scheinen manche Männer langsam etwas verunsichert darüber, was im Umgang mit Frauen noch erlaubt ist.
(Denkt nach) Da muss ich ein bisschen schmunzeln. Aber gleichzeitig kriege ich auch eine Gänsehaut.


Warum?
Dass das überhaupt ein Thema ist. Ich habe mir schon mal überlegt, ob ich einen Migros-Kurs anbieten soll. (Sie lacht) Nein, im Ernst. Ich begrüsse diese Verunsicherung. Denn nur daraus kann sich eine neue Orientierung entwickeln. Ich finde es hoch spannend, dass keiner dieser Männer Mühe hat, sich in einem Lift konform zu verhalten, denn dort guckt man aneinander vorbei und starrt niemanden an. Dieses natürliche Gespür setze ich auch im Umgang mit Frauen voraus. Wenn das bei einem Mann fehlt, dann frage ich mich, was mit seinem Körpergefühl und seinen persönlichen Grenzen los ist. Da sollte er mal nachforschen.


Sind alltägliche Grenzverletzungen bereits ein Akt der Gewalt?
Ja, das ist oft subtile Gewalt. Sie kann Schlimmeres nähren und das Klima aufheizen. Es geht um Respekt: Die Würde einer Frau darf auch nicht so nebenbei verletzt werden.


Wie oft werden Sie in Ihrer Praxis mit Gewalterfahrungen konfrontiert?
Da ich über verschiedene Ausbildungen in der Traumapsychotherapie verfüge und sehr viel Erfahrung habe mit Gewalt an Mädchen und Frauen, sind zeitweise zirka 20-30 Prozent meiner Klientel Gewaltopfer und via Opferhilfeorganisationen zu mir gelangt. Aber auch schon als junge Psychotherapeutin hat es mich erschreckt, wie viele Frauen betroffen sind, die gar nicht speziell mit dem Thema kommen und während der Therapie scheinbar beiläufig herauskommt, was sie an Gewalterlebnissen in Kindheit oder Jugend erlitten haben.


Gibt es Mädchen, die gefährdeter sind als andere, sexuelle Ausbeutung zu erleben?
Ja, Mädchen, die in unsicherer Bindung oder schwierigen sozialen oder familiären Verhältnissen aufwachsen, sind prädestinierte Opfer für sexuelle Ausbeutung. Oft ist es die einzige Zuwendung, die sie durch einen Vater, Onkel oder grossen Bruder erhalten. Inzest ist immer ein gewalttätiger Akt, da eine Grenze überschritten wird. Es handelt sich dabei um «Seelenmord», wie es die Autorin Ursula Wirz nennt; mit lebenslangen Folgen. Die Einsamkeit der betroffenen Mädchen ist unvorstellbar, da das Umfeld wegschaut. Eine Mutter sagte ihrer Tochter: «Es ist ja nur dein Vater.»


Können Sie ein paar Beispiele aus Ihrer Praxisarbeit erzählen?
Ich erfahre von erschütternden Schicksalen. Zur Zeit kommt ein junges Mädchen zu mir, das schon als Zweijährige von seinem Vater sexuell missbraucht wurde, wie ihre zwei Jahre ältere Schwester auch. Ihr Leben wird bis heute davon überschattet. Längere Zeit habe ich ein junges Mädchen begleitet, das über Monate mit ihrem ersten Freund in einer Gewaltbeziehung lebte, ohne sich zu wehren. Sie ging davon aus, dass das, was er mit ihr machte – unter anderem Würgen bis zur Ohnmacht – zur Sexualität gehörte. Eine Frau, Mitte 30, wurde von ihrem Partner mehrfach übel zugerichtet, auch gewürgt, er richtete seinen Kampfhund auf sie, der sie in die Brust biss, und er stalkte sie über lange Zeit. Diese Frau wurde schon als Sechsjährige missbraucht, nicht ernst genommen.


Haben Sie auch Fälle von Mädchenhandel erlebt?
Das auch. Vor ein paar Jahren kam eine junge Afrikanerin zu mir, die als sogenannte Nanny von einem renommierten Schweizer Ehepaar engagiert wurde. Man nahm ihr irgendwann das Handy weg, sperrte sie ein und sie musste Sexdienste leisten. Die ganze Geschichte war sehr gerissen eingefädelt. Zum Glück schöpfte ein Frauenarzt Verdacht, und die junge Frau landete im Frauenhaus. Dass sie ihre Anzeige zurückzog, dafür hatte das Ehepaar auf besonders perfide Art gesorgt.


Was viele nicht vermuten: Auch in Lehrbetrieben gibt es Gewaltausübung.
Diese Tatsache wird stark unterschätzt. Ich begleite eine Lehrtochter, die in ihrem Bieler Betrieb zweimal von ihrem Chef sexuell ausgebeutet wurde. Während der Traumabehandlung erinnerte sie sich plötzlich daran, dass sie kurz nach der Tat von einem weiteren Mitarbeiter im selben Betrieb zu oralem Sex genötigt wurde, später verging er sich noch einmal an ihr. Sie hatte die Erinnerung daran abgespalten.


Was ist mit emotionaler Gewalt?
Gewalt kann sich offen, aber auch sehr subtil äussern. Emotionale Gewalt kommt leider in den meisten Familien, aber auch in Schulen vor. Sie kann tiefe Selbstzweifel und eine lebenslange Angst erzeugen.


Gerade bei häuslicher Gewalt geht es ja auch um ein Zusammenspiel von zwei Parteien, die sich gegenseitig hochschaukeln.
Wenn jemand zuschlägt, dann wird eine Grenze überschritten. Das liegt immer in der Verantwortung des Täters. Jeder Mensch ist für seine Gefühle und wie er damit umgeht, selbst verantwortlich. Statt zuzuschlagen, kann sich jeder zum Beispiel dazu entscheiden, sich aus der Situation zu entfernen.


Auch Jungs und Männer können Opfer von Gewalt sein.
Ich bin sehr dankbar, dass Sie das ansprechen. Denn das ist ein grosses Tabuthema. Bei sexuellen Übergriffen in der Kindheit und Jugend soll jedes zehnte ein männliches Opfer sein. Im Moment begleite ich einen 60-jährigen Mann, dessen Frau ihn geschlagen hat. In der Therapie stellte sich dann heraus, dass er als sechsjähriger Bub von einem katholischen Priester in der Nähe von Biel so übel missbraucht wurde, dass die Eltern zum Kinderarzt mussten. Eltern und Kinderarzt haben ihn dann gezwungen nichts zu sagen, unter Androhung weiterer Prügel, die er sowieso sehr oft erfahren hat. Er hat sich im Laufe der Therapie bei der Kirche beschwert und als Abfindung 5000 Franken erhalten, womit er zufrieden war. Ich hätte mir aber eine offizielle Entschuldigung gewünscht.


Wie reagiert die Gesellschaft auf geschlagene Männer?
Dazu ein Beispiel: Ein Mann musste sich in einem Haus vor seiner gewalttätigen Frau verbarrikadieren. Er hat nie zurückgeschlagen, die Frau hat anschliessend behauptet, er hätte sie geschlagen. Solche Männer haben bei den Behörden keine Chance und werden nicht ernst genommen, nach dem Motto: «Das kann doch nicht sein, ein Mann, der sich schlagen lässt.»


Man kann aber nicht ignorieren, dass die überwiegende Mehrheit der Gewaltbetroffenen Frauen sind.
Natürlich, dem ist so. Laut der WHO ist Gewalt die häufigste Todesursache der Frauen auf der Welt. Jedes dritte Mädchen zwischen 13 und 19, das in Partnerschaft lebt, ist Opfer emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt.


Wie ordnen Sie diese Tatsache ein?
Es gibt sehr viele unterschiedliche Gründe, warum Männer gewalttätig werden. Viele Täter haben selbst bereits in ihrer Kindheit Gewalt erlebt und geben ihre eigene, unverarbeitete Geschichte so weiter. Bei häuslicher Gewalt führt oft ein Gefühl der Überforderung dazu, dass die Situation eskaliert. Ausserdem schlummern auch in den Schweizer Männer-Köpfen noch immer patriarchalische Muster. Bei der sogenannten schwarzen Pädagogik etwa war es normal, dass es Prügel gab, und Prügel teilte normalerweise der Vater aus. Als ich vor 30 Jahren in die Schweiz kam, war Vergewaltigung in der Ehe noch nicht strafbar. Ein Auszug aus dem Ehezimmer musste zuerst der Friedensrichter erlauben. Dieses lange vorherrschende Selbstverständnis kann auch heute noch zu häuslicher Gewalt führen.


Sehen Sie weitere Motive?
Bei manchen Tätern geht es oft um unbewusstes, automatisiertes Verhalten. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz in der DNA unterscheidet uns bekanntlich vom Affen. In diesem kleinen Unterschied versteckt sich die Reflexionsfähigkeit. Und die wird viel zu selten eingesetzt. Es gibt aber auch Menschen, die aus erfahrener grenzenloser Verwöhnung meinen, sich alles nehmen zu können. Gerade in sogenannt gehobeneren Kreisen passiert meiner Erfahrung nach sehr viel Übergriffiges, als ob das bei einem gewissen Status ein Anspruch sei. Die Taten werden dann auch gerne als «Kavaliersdelikt» abgetan, oder mit Sprüchen wie «die Kleine hat es ja selber gewollt». Hier geht es um Machtgebaren und Dominanz.


Warum werden viele in ihrem Leben oft mehrmals Opfer von Gewalt?
Viele meiner Klientinnen, die später Gewalterlebnisse hatten, wurden in ihrer Kindheit geschlagen. Dass viele oft mehrmals von Gewalt betroffen sind, hängt damit zusammen, dass häufig eine Retraumatisierung stattfindet, wobei das Gehirn zum Selbstschutz einen Erstarrungsmechanismus auslöst, wenn Flucht und Gegenangriff nicht möglich sind. Deshalb wehren sich viele Opfer nicht, was ihnen dann noch vorgeworfen oder als Willigkeit ausgelegt wird. In 25 Jahren sind mir in meiner Praxis nur eine oder zwei Frauen oder Mädchen begegnet, die nicht bereits früher körperliche oder emotionale Gewalterlebnisse hatten.


Haben Sie in Ihrer Praxis auch Klienten, die ein Täterverhalten an den Tag legen?
Ja, zur Zeit begleite ich einen jungen Mann, der wiederholt gegen seine Freundin gewalttätig geworden ist. Seine eigene Kindheitsgeschichte ist von Gewalt und Lieblosigkeit geprägt. Als er ins Heim abgeschoben wurde, wurde er als Zwölfjähriger von einer Betreuerin sexuell ausgebeutet. Der betroffene Klient möchte sich wirklich verändern und sich seiner eigenen Schmerzgeschichte stellen. Schmerz, Schuld und Scham haben ihn allerdings schon so überwältigt, dass er zwei Selbsttötungsversuche hinter sich hat. Leider kommen die wenigsten Täter in die Therapie, zum Glück gibt es seit längerer Zeit eine Beratungsstelle, an die sich gewaltbereite Männer wenden können.


Welche Mechanismen spielen denn speziell bei sexuellen Übergriffen eine Rolle?
Die sexuelle Befreiung ist in ihr Gegenteil pervertiert, und bei all dem Überangebot an Reizen haben viele Männer ihre Lust verloren und brauchen immer jüngere Frauen oder spezielle Spiele. Lust ohne persönliche Begegnung ist reine Triebbefriedigung und hinterlässt auch bei Männern oft ein schales Gefühl. Auch viele Männer können übrigens nicht nachvollziehen, wie Lust durch Gewalt entstehen kann. Wenn sich reifere Männer an jüngeren Frauen vergehen, vermute ich oft eine Unfähigkeit, mit gleichaltrigen Frauen in Kontakt zu kommen. Durch die schnelle, billige Triebbefriedigung durchs Internet wird vor allem jungen Männern ein unrealistisches Bild von erfüllter Sexualität vorgegaukelt.


Wie können sich Mädchen und Frauen am besten vor Übergriffen schützen?
Eigentlich müsste die Frage lauten: Wie kann die Gesellschaft die Mädchen und die jungen Frauen beschützen? Minderjährige Mädchen können sich nur schützen, wenn sie eine Vertrauensperson haben, an die sie sich wenden können.


Gewaltthemen tauchen bereits in der Familie und der Schule auf.
Es braucht zunächst mal eine klare Gesetzgebung, die jede körperliche Züchtigung an Kindern verbietet. Jeder einzelne, der Gewalt beobachtet und nichts unternimmt, wird zum Mittäter. Ich fordere auch mehr Begleitung in den Familien, die aus fremden Kulturen zu uns kommen. Es kann doch nicht sein, dass in irgendeinem Wohnblock in Nidau noch Mädchen beschnitten werden. Oder Männer ihre Frauen täglich schlagen? Ihre Mädchen im Haus gefangen nehmen?


Müssten auch Schulen in die Verantwortung genommen werden?
Unbedingt. In der Schule sollte das Thema sexuelle Übergriffe in den Aufklärungsunterricht mit einbezogen und das Thema Gewalt immer wieder aufgegriffen werden. Ich fordere, dass in den Schulen neue Fächer eingeführt werden, in denen der Umgang mit Gefühlen, Konflikten und Gewalt thematisiert wird. Und dann gibt es da noch die Ausbildungsorte. In all den Institutionen muss es für Mädchen und junge Frauen Anlaufstellen geben, an die sie sich niederschwellig wenden können. Gerade in Fällen von Übergriffen durch Ausbildner, Lehrmeister oder Lehrer finde ich es ganz wichtig, dass den Tätern konsequent ihr Verantwortungsbereich entzogen wird. Wenn ein Täter die Schuld auf das Opfer abschiebt oder gar auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert, verschlimmert er seine eigene Schuld und das Trauma der Betroffenen.


Und wo kann jeder und jede Einzelne ansetzen?
Wenn Männer gewalttätig werden gegen Mädchen und Frauen, und wenn unsere Gesellschaftsstruktur das fördert, dann braucht es vor allem Aufklärung und mehr Bewusstsein jedes Einzelnen. Es gibt einen neuen, aber wichtigen Modebegriff, «Achtsamkeit». Wer achtsam mit sich selber ist, kann nicht gewalttätig werden. Die Frage ist, wie bringen wir mehr Achtsamkeit in unsere Gesellschaft, in der so viele Menschen nach unbewussten Mustern funktionieren, von der Gewalt nur eines ist? Weitere sind, es recht machen zu wollen, nach Anerkennung zu streben, gut da zu stehen, sich anstrengen zu müssen, um geliebt zu werden usw. Wenn man in diesen Mustern nicht reüssiert, kann sich schon ein Gewaltpotenzial entwickeln, auch auf subtile Art.


Wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der Sie sich wohlfühlen?
Ich wünsche mir so sehr eine bewusstere Gesellschaft, denn das wäre die beste Gewalt-Prophylaxe. Nur mit Bewusstheit und Präsenz in unseren kleinen Systemen können wir uns wirklich weiter entwickeln. Da stellt sich natürlich die Frage: Kann unsere Leistungs- und Konsumgesellschaft klare und wache Menschen wirklich gebrauchen? Leider ist auch unsere Gesundheitspolitik nicht daran interessiert, dass Menschen ihre eigenen Traumata wirklich in der Tiefe verarbeiten können, um sie nicht weiterzugeben. In den psychiatrischen Kliniken hat die medikamentöse Behandlung ein zu grosses Gewicht, der Schmerz wird zugedeckt statt verarbeitet. Ausserdem müsste es endlich Institutionen geben, in denen traumatisierte Menschen sich erholen können und Halt und Geborgenheit finden. Zum Glück gibt es in der Schweiz die Opferhilfe, die Therapiekosten bei denjenigen übernimmt, die nur grundversichert sind. Leider werden die Betroffenen alle gleich behandelt: Ein sogenanntes Verdingkind mit fast täglich erlebter Gewalt hat nicht mehr Therapiestunden zugute als eine Frau, die zweimal häusliche Gewalt erlebt hat. Oft muss eine Therapie deshalb zu früh beendet werden.

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