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Kommentar

Jetzt ist der Zeitpunkt da, nicht in Zukunft

Es sind ambitionierte Schritte: Die städtischen Velowege werden im Eilzugstempo um 40 Kilometer erweitert, das gesamte Stadtzentrum wird zur 20er-Zone erklärt. Gleichzeitig werden Strassen für den motorisierten Verkehr verkleinert und Wege für Fussgänger vergrössert.

Symbolbild Keystone

Deborah Balmer

Die Rede ist hier von einer Stadt, die mit B beginnt. Wir sprechen hier aber nicht von Biel, sondern von Belgiens Hauptstadt Brüssel.  

Das gleiche Vorgehen findet sich derzeit neben Brüssel noch in einer anderen grossen Stadt, deren erster Buchstabe ein B ist. Es ist aber wieder nicht Biel, sondern Berlin: Auch in der deutschen Hauptstadt entstehen derzeit neue Velowege. Dafür werden Parkplätze gestrichen und ganze Fahrspuren für Autos aufgehoben.

In Paris ist die wichtigste Verkehrsachse der Stadt, die Rue de Rivoli für private Fahrzeuge gesperrt worden. Stattdessen verkehren hier Velos und öffentliche Verkehrsmittel. New York, Milano – die Liste mit Orten auf der Welt, die nun nicht mehr von zukünftigen Velonetzen und zukünftigen fussgängerfreundlichen Zonen reden, sondern handeln, ist erstaunlich lang. Möglich macht dies die Tatsache, dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden, die ungewöhnliches Handeln erlaubt.

Mit den fortschreitenden Lockerungen der Corona-Massnahmen gehen immer mehr Menschen wieder nach draussen. Wie schaffen sie es aber, die nötige Distanz zueinander einzuhalten? Auch die Stadt Biel hat ein Interesse daran, dass es in den 
öffentlichen Bussen nicht bereits in den nächsten Wochen wieder zu einem Gedränge kommt.

Sieben verschiedene Massnahmen hat der Gemeinderat diese Woche präsentiert, mit denen er einerseits der lokalen Wirtschaft und andererseits den Bürgern helfen will, den Ausstieg aus der Coronakrise möglichst einfach zu schaffen. In einer Mitteilung dazu schreibt die Stadt unter anderem, nicht nur unsere sozialen Gewohnheiten, sondern auch die Art und Weise uns fortzubewegen müsse aufgrund der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit dem Coronavirus überdacht werden.

«Ab aufs Velo!», heisst eine der Massnahmen, die Stadt lässt sie sich 25 000 Franken kosten. 500 Bielerinnen und Bieler können sich bis Ende September 50 Franken an einen Veloservice anrechnen lassen. Die Aktion ist sympathisch und eine wirklich nette Geste. Damit sie aber nicht einfach verpufft, muss das Gesamtkonzept stimmen. In diesem Fall heisst das, das städtische 
Velonetz.

Und hier fragt man sich, wie realistisch der Gemeinderat die Lage einschätzt. «Die Stadt Biel hat im Gegensatz zu grösseren Städten nicht das Problem, dass ihre Strassen überlastet sind, und eignet sich deshalb sehr gut für die Fortbewegung auf zwei Rädern», schreibt er. Doch in Wahrheit gibt es für Velofahrerinnen und Velofahrer in der Stadt viele gefährlich Stellen: Velowege, die vor Abzweigungen, Verkehrsinseln und Fussgängerstreifen im Nichts enden. Nicht ohne sind auch längs parkierte Autos am Strassenrand, die die Strasse für Radfahrer gefährlich eng machen. Wenn ein grosser Lastwagen an einem vorbeifährt, und man gleichzeitig daran denken muss, dass eine Autotür aufgehen könnte – der Fall ist das etwa auf der Dufourstrasse – wird es besonders prekär. Teilweise fehlen die Velowege ganz – die Realisierung der Nordsüd-Achse über die Gartenstrasse ist in einer Prüfungsphase stecken geblieben. Stadtweit ist das Velonetz ein Flickenteppich. Laut Pro Velo Biel/Bienne Seeland gehört der Verresius-Kreisel in Biel zu den zehn gefährlichsten Orten für Velofahrer im ganzen Kanton Bern. Und auch der Bahnhofplatz mit seinem Velochaos vermittelt nicht unbedingt den Eindruck einer Stadt, die die Bevölkerung motivieren möchte, das Velo aus dem Keller zu holen.

Doch jetzt wäre eigentlich genau der richtige Zeitpunkt, um ein Gesamtkonzept für Velofahrer schnell umzusetzen, weil viele jetzt, wie die Stadt erkannt hat, nochmals neu über Mobilität nachdenken. Es wäre also der ideale Moment für eine richtige Velooffensive.

Mehr durchgängige Velostreifen, ein autofreier Unterer Quai vom See bis zum Zentralplatz. Wieso nicht ganze Quartiere, die in den Sommermonaten an den Sonntagen autofrei werden? Es gibt genügend Möglichkeiten – vielleicht erstmals nur temporäre. Dieser Sommer wäre besonders geeignet dafür, weil viele nicht verreisen, sondern in Biel bleiben werden. Und weil wir uns nach dem Lockdown in der erwähnten Ausnahmesituation befinden.

Natürlich wäre der Widerstand vorprogrammiert. Doch statt es allen recht machen zu wollen, könnte man eine ambitiöse Idee durchsetzen, auch wenn gerade Wahlen vor der Tür stehen. Denn Autos dürfen auch nach dem Lockdown nicht zu viel Platz in der Stadt einnehmen. Tatsache ist aber auch, dass, wer sich vor dem Coronavirus schützen will, im eigenen Auto besonders 
sicher ist. Nach Möglichkeit sitzt der Autofahrer oder die Autofahrerin sogar alleine im Wagen.

Übrigens zieht Biel gleich mit Paris, wenn es um den Veloservice geht: Auch Paris hat ein 
Millionenpaket geschnürt, um Bürgerinnen und Bürgern eine Veloreparatur zu bezahlen. Das lässt einen im besten Fall das Vertrauen in die Regierung zurückgewinnen, das durch die vielen Einschränkungen vielleicht etwas angeschlagen ist. Doch Paris geht eben noch einen Schritt weiter. Und auch Weltstädte wie Brüssel, Berlin, Buenos Aires und New York krempeln gerade die Strasseninfrastruktur um. Wieso also nicht auch die links-grün regierte Stadt Biel?

dbalmer@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Kommentar, Biel, Velo, Fahrradweg

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