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Corona-Impfung

«Kinder sollen nicht die Impflücken der Erwachsenen schliessen»

Bald geht es in Biel los mit Kinderimpfungen. Viele Kinderärztinnen und Kinderärzte der Region sind bei ihren Impf-Empfehlungen jedoch zurückhaltend.

Ist eine Impfung für Kinder sinnvoll oder nicht? Die Kinderärzte sind sich uneinig. Symbolbild: Keystone

Mengia Spahr

Anfang Dezember hat Swissmedic den Impfstoff von Pfizer/Biontech für Kinder zwischen fünf und elf Jahren zugelassen. Der Bieler Kinderarzt Walter Koch forderte kürzlich im grossen BT-Interview, dass alle Kinder geimpft werden sollen. Der Initiator der Gruppenpraxis im Medizinischen Zentrum Biel (MZB) geht damit weiter als die Eidgenössische Impfkommission (Ekif) und das Bundesamt für Gesundheit (BAG), die empfehlen, nur gefährdete Kinder gegen Corona zu impfen (siehe Infobox). Zu zögerlich findet Koch deren Strategie.

Wenige Tage vor dem Impfstart in Biel zeigt sich: Längst nicht alle Kinderärztinnen und Kinderärzte der Region sind da gleicher Meinung.

 

Neutral informieren

Er werde keine Kinder zur Impfung auffordern, sagt etwa Thomas Bamberger, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin im Praxiszentrum Passerelle in Grenchen. Ein Anschlag in der Praxis mit der Erklärung, wie man sich anmeldet, solle, nebst sachlicher Beratung auf Nachfrage, ausreichen. Auch Katrin Suter, die in der Kinderarztpraxis in Lyss arbeitet, setzt auf neutrale Information: Sie hat aus den Informationen der offiziellen Empfehlungen ein Merkblatt zusammengestellt, das sie in der Praxis auflegt und den Eltern auf Anfrage mailt.

Impfe man nur die Kinder, denen die Ekif die Impfung empfehle, seien das nicht viele, sagt Cornelia Wirz von der Kinderarztpraxis Guisanplatz in Biel. Wenn man entgegen der offiziellen Empfehlung alle Kinder impfen wolle, stelle sich die Frage, inwiefern diese von der Impfung profitieren.

Denn Expertinnen sind sich einig, dass bei Kindern eine Infektion mit dem Coronavirus fast immer mild und ohne Komplikationen verläuft. Wer sich unsicher sei, ob er seine Kinder impfen lassen soll, solle sich von seinem Kinderarzt beraten lassen, schreibt das BAG in einem Informationsblatt.

Katrin Suter aus Lyss findet, dass die Eltern gut damit umgehen können, wenn man sie neutral berate. Viele wünschten sich aber auch eine persönliche Empfehlung, fragten, ob die Ärztin ihre eigenen Kinder impfen werde. Suter sagt offen, dass sie selbst noch nicht schlüssig ist, ob sie ihre beiden Kinder impfen lassen soll. Sie habe zwar keinerlei Bedenken der Impfung gegenüber, wisse jedoch noch nicht, ob sie wirklich nötig sei. Von den jüngeren Kindern, die bisher in ihrer Praxis positiv getestet worden seien, sei keines schwer erkrankt. Aber: Sie wolle sich nicht auf eine Empfehlung festlegen, da das Coronavirus sie selbst immer wieder überrasche. «Es hat eine unangenehme, unberechenbare Note – ein Grund, sich auf die Pro-Impfung-Seite zu stellen», so Suter. Eltern, die ihre Kinder impfen lassen wollen, bekräftige sie in ihrem Vorhaben.

 

Unklar, was die Zukunft bringt

Wirz von der Kinderarztpraxis Guisanplatz hingegen ist gegen die Impfung von Kindern, die nicht zur Risikogruppe gehören: «Für eine Durchimpfung bräuchte es zwingende Gründe», sagt sie. Eltern, die sich bei ihr informieren, ob sie ihre gesunden Kinder impfen sollen, rate sie im Moment davon ab. Da den Kindern bei jeder Welle eine andere Rolle zukam, warte sie erst auf neue Daten, auch, weil die Virusvariante Omikron gerade alles aufmischt. «Falls herauskommen sollte, dass die Kinder von der Impfung enorm profitieren, werde ich ganz anders argumentieren, aber es kann auch sein, dass die Impfung gegen Omikron nichts nützt.» Wirz findet es schlecht, wenn man eigenständig Prognosen wagt, denn es gebe ein grosses Risiko, dass man falsch liege. «Wir müssen demütig sein, im Bewusstsein, dass nicht immer dieselben Massnahmen sinnvoll sind.» Zu viel könne sich von einem auf den anderen Moment ändern, sobald neue Erkenntnisse vorlägen.

Genau dies sei der Grund, weshalb man proaktiv handeln und möglichst bald flächendeckend impfen solle, findet dagegen Michael Aeppli, Geschäftsführer der Kinderarztpraxis Schwanenkolonie in Biel: «Wenn man keine Vorreiterstellung einnimmt und auf offizielle Weisungen wartet, ist man immer zu spät.» Kinderärzte seien schliesslich Präventivmediziner und Impfen sei per Definition eine präventive Massnahme. «Wenn Kinder bei einer neuen Variante plötzlich zur Personengruppe mit besonders schwerem Verlauf gehören sollten, ist man froh um jedes Kind, das bereits geimpft ist.» Aeppli sagt, dass er mit der Impfung vor allem Komplikationen und Spätfolgen von Covid-19 verhindern wolle. In seiner Praxis würden Patienten betreut, die unter Long-Covid leiden. Auch hätten sie ein Kind mit einem PIMS notfallmässig ins Spital überweisen müssen. Beim sogenannten Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS) kommt es einige Woche nach einer Infektion mit Covid-19 zu hohem Fieber und starken Entzündungsreaktionen in vielen Organen. Gemäss Informationen des BAG sind in der Schweiz bisher etwa 100 Fälle bekannt. Die junge Patientin von Aepplis Praxis habe sieben Tage auf der Intensivstation im Inselspital gelegen, sagt er. Solch tragische Fälle solle die Impfung verhindern helfen.

Laut offiziellen Informationen ist jedoch nicht erwiesen, dass die Impfung Spätfolgen tatsächlich verhindert. BAG und Ekif schreiben in ihrer Impfempfehlung: «Ob die Impfung vor PIMS und Long-Covid schützt, ist anzunehmen, aber noch unbekannt».

 

Impfzentrum bereitet sich vor

Es gibt noch einen weiteren Grund, der nach Ansicht mancher Kinderärzte für eine generelle Impfempfehlung spricht: «Mit der Impfung erhält das Kind Freiheiten zurück», sagt Thomas Bamberger vom Praxiszentrum Passerelle in Grenchen. Dieses Argument lässt Wirz aber nicht gelten: Angesichts des rasanten Vormarsches der Omikron-Variante könne niemand sagen, ob geimpfte Kinder nicht doch auch in Quarantäne müssen.

Einig sind sich die Kinderärzte der Region darin, dass man Kinder nicht primär impfen darf, um die Erwachsenen zu schützen. Für Katrin Suter aus Lyss ist klar: «Es kann nicht sein, dass man mit einem moralischen Appell kommt. Kinder sollen nicht die Impflücken der Erwachsenen schliessen müssen.» Ausserdem bereitet Suter die Vorstellung Kopfzerbrechen, dass durch allfällige neue Regelungen ungeimpfte Kinder gegenüber geimpften im Nachteil sein könnten, insbesondere in der Schule. «Eine Spaltung in zwei Lager muss unbedingt verhindert werden.»

Im Kanton Bern sollen die Fünf- bis Elfjährigen in speziell dafür eingerichteten Zonen in den grossen Impfzentren sowie in Praxen von Hausärztinnen und Kinderärzten geimpft werden. Das ambulante Gesundheitszentrum Medin am Bahnhof Biel hat heute erste Termine aufgeschaltet. Die ersten Kinderimpfungen sind für den 8. Januar geplant. Ein weiteres Impfzentrum in der Nähe befindet sich in Selzach.

Thomas Bamberger aus Grenchen, der seine kleinen Patienten dorthin schicken wird, findet, dass es in den Impfzentren unbedingt Kinderärzte und medizinische Praxisassistenten, die sich den Umgang mit Kindern gewohnt sind, brauche, damit sich Kind und Eltern wohlfühlen. Dessen ist man sich in Biel bewusst. Man habe Personal rekrutiert, das Erfahrung in der medizinischen Betreuung von Kindern habe, schreibt Mathias Gebauer, leitender Arzt Pädiatrie und Neonatologie der Kinderklinik Wildermeth, auf Anfrage.

Die meisten Kinder aus der Region Biel Seeland werden ihre Impfung wohl im Impfzentrum erhalten. Dem «Bieler Tagblatt» ist einzig von Walter Koch und Michael Aeppli bekannt, dass sie in ihren Praxen die Kinderimpfung verabreichen wollen.

 

Ausgelastete Kinderärzte

Die befragten Kinderärztinnen und -ärzte sind sich einig, dass eine Impfung in der Praxis beim Hausarzt des Vertrauens grundsätzlich einer im Impfzentrum vorzuziehen sei. Doch: «Das sprengt schlicht den organisatorischen und zeitlichen Rahmen», sagt Katrin Suter. Auch Wirz sieht nicht, wie sie die Corona-Impfung in den Praxisalltag integrieren könnte. «Wir haben so viele kranke Kinder, die jetzt eine Kontrolle brauchen, dass wir nicht mit dem Impfen beginnen können», sagt sie.

Da die Impfung nicht in Einzeldosen in die Praxis geliefert wird, müssten Haus- und Kinderärzte die impfwilligen Kinder bündeln und Impftage oder -nachmittage einführen. «Dafür müssten sich mindestens zwei Personen für einen Halbtag aus dem Praxisalltag ausklinken», sagt Bamberger.

Diese Kapazitätsprobleme hat der Verein Berner Haus- und Kinderärzte (VBKH) erkannt. «Im Winter herrscht der normale Wahnsinn in den Kinderarztpraxen», sagt Stefan Roth, Co-Präsident des VBHK. Und jetzt starte ausgerechnet noch die Covid-Impfkampagne. Diese Wochen werden Tausende Dosen Impfstoff an die Kantone verteilt, die innerhalb kürzester Zeit verimpft werden müssen. «Diejenigen, die ihre Kinder impfen lassen wollen, wollen das jetzt», sagt Roth. Um dies zu ermöglichen, hat der VBHK vor Weihnachten eine Rekrutierungsaktion gestartet. Über 40 Kinderärztinnen seien dem Aufruf gefolgt und hätten sich bereit erklärt, Einsätze in den kantonalen Impfzentren zu leisten. «Die Impfzentren haben die Infrastruktur; Anmeldung, Terminvergabe und Abrechnung funktionieren, der Impfstoff ist parat. Wir Kinderärzte haben das pädiatrische Knowhow und kommen einfach, um zu impfen», so Roth. Auch aus der Region Biel Seeland werden einige Kinderärztinnen und medizinische Praxisassistenten Einsätze in den Impfzentren machen.

Doch wie gross wird die Nachfrage nach der Impfung überhaupt sein? Alle befragten Kinderärzte erhielten bereits Anrufe von Eltern, die sich nach der Impfung erkundigten. «Kaum, dass dazu etwas in den Zeitungen stand, hat bereits das Telefon geläutet», erzählt Suter. Einzelne Eltern warteten laut ihr schon lange auf die Impfung. Viele fragten in der Sprechstunde danach. Doch Suter glaubt, dass sich die meisten Eltern einfach informieren wollen. Sie erwartet für den Anfang keinem grossen Andrang. Auch Aeppli bezeichnet die bisherigen Anfragen als eher verhalten bis zurückhaltend. «Viele warten typisch schweizerisch zuerst ab.»

Medin-Direktor Michael Stettler schreibt, man rechne in der Region mit 2000 Impfungen für unter Zwölfjährige. In einem ersten Schritt wolle das Medin 1000 Impftermine aufschalten.

 

Die Covid-19-Kinderimpfung

  • Für Kinder zwischen fünf und elf Jahren ist der Impfstoff von Pfizer/Biontech zugelassen
  • Sie erhalten ein Drittel der Dosis für Erwachsene und Jugendliche
  • In der Schweiz gibt es in dieser Alterskategorie rund 600 000 Kinder
  • Empfohlen wird die Impfung nur Kindern, die wegen einer chronischen Erkrankung gesundheitlich stark belastet sind oder engen Kontakt zu besonders gefährdeten Erwachsenen haben
  • Genesenen Kindern wird die Impfung nur empfohlen, wenn sie zu oben genannten Personengruppen gehören
  • Um eine Impfung zu erhalten, müssen die Kinder online registriert werden. Die Terminbuchung erfolgt über Vacme
  • Im Impfzentrum Medin in Biel wird es zunächst an zwei Tagen pro Woche Zeitfenster für Kinderimpfungen geben
  • Der Impfstart im Medin ist am 8. Januar mrs

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