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Standpunkt

Krieg in Europa

Jetzt ist es so weit. Ungläubig und bestürzt blicken wir in die Ukraine, die vom russischen Aggressor überfallen wird.

Bild: Tobias Graden, stv. Chefredaktor

Ein skrupelloser Angriffskrieg in Europa – bis gestern wollte man nicht wahrhaben, dass dies im Jahr 2022 noch möglich ist. Putins Krieg ist nicht nur völkerrechtswidrig, grausam und zynisch; er ist ein zivilisatorischer Rückfall. Putin macht klar: Für Russland gelten nicht mehr Verträge, Abkommen, Verhandlungen, nicht einmal das eigene Wort von gestern. Für Russland gilt das Recht des Stärkeren. 

Dem hat der Westen erst mal wenig entgegenzusetzen. Die Realität sieht vorerst so aus, dass die Ukraine sich selbst überlassen wird. Das schärfste Sanktionspaket wird Putin nicht von seinem Weg abhalten. Ein militärisches Eingreifen ist zum jetzigen Zeitpunkt undenkbar, es wäre wohl der Beginn des Dritten Weltkriegs. Inwiefern weitere Waffenlieferungen noch Sinn machen und überhaupt noch möglich wären, ist höchst fraglich. Hinzu kommt, dass Russland solche als Casus Belli für eine Ausweitung kriegerischer Handlungen verstehen dürfte: Eine entmilitarisierte Ukraine, also ein Vasallenstaat, ist sein Ziel, ansonsten weite sich der Krieg in Europa aus, hat er gestern klargemacht. Aber auch so schon wird dieser Krieg eine Dimension erreichen, wie es sie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gab. 

So ungläubig man jetzt auch staunt: Dieser Krieg war lange angekündigt. In seiner ganzen Amtszeit hat Putin keinen Zweifel daran gelassen, was seine Ziele sind, und auch nicht daran, mit welchen Mitteln er sie zu erreichen gedenkt. Kaum war er im Amt, holte er das abtrünnige Tschetschenien mit brutalster Gewalt zurück. Und dass ihn das Völkerrecht einen Dreck kümmert, machte er spätestens mit der Annexion der Krim klar. Auch die denkwürdige Rede, die er anfangs dieser Woche hielt und in der er der Ukraine jegliches Recht auf eigene Staatlichkeit absprach, war nicht neu, sondern die Quintessenz seiner Weltsicht, die er bereits zuvor in mehreren Traktaten veröffentlicht hatte. 

Und doch ist Putin gerade in Europa bis vor wenigen Tagen offenbar unterschätzt worden. Man hat ihn im wahren Sinn des Wortes nicht ernst genommen, klammerte sich lieber bis zuletzt selektiv an russische Beteuerungen, deren Obsolenz nun augenfällig ist. Dabei muss seit den verdeckten Operationen auf der Krim und im Donbass und dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs mit russischen Waffen 2014 klar gewesen sein: Putin lässt sich nur an seinen Taten messen, nicht an seinen Worten. Dass er keinerlei Skrupel kennt, zeigte zuletzt beispielsweise das Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg, in dem russische Kampfflugzeuge auch zivile Einrichtungen beschossen haben. 

Der Angriff auf die Ukraine ist letztlich nicht «nur» ein Kampf gegen eine unbotmässige frühere Sowjetrepublik, sondern er kommt einer Kriegserklärung an die gesamte europäische Friedensordnung der Nachkriegszeit gleich. Trotz womöglich mangelnder Sensibilität des Westens gegenüber Bedenken und legitimen Interessen Russlands: Nichts rechtfertigt die Art und Weise, wie Putin diese nun verfolgt. Natürlich ist Gegengewalt für die Nato und für Europa keine Option. Doch an einer entschiedenen Antwort und einer grösstmöglichen Distanzierung und Isolierung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht führt kein Weg vorbei, auch wenn dies einen langen Schnauf bedingen wird. Es muss Russland klargemacht werden, dass es für seine Politik hohe Kosten zu zahlen hat. Das Russland von Putin hat sich selber von Europa entfernt. Auf welcher Basis sollte man sich auch überhaupt finden können, wenn für Putin weder das Selbstbestimmungsrecht der Völker (die Ukraine hat sich 1991 mit über 90 Prozent für ihre Unabhängigkeit ausgesprochen) noch geschlossene Verträge etwas gelten? Nicht zuletzt hat Putin klar gemacht, dass er im Prinzip auch für die Staaten des Baltikums ein ähnliches Schicksal vorsieht. 

Und so steht Europa nun eine ungewisse Zukunft bevor. Denn das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Die Ukraine mag ihre Unzulänglichkeiten haben, doch sie hat sich in den letzten Jahren aus freien Stücken und aus eigener Kraft in Richtung Europa aufgemacht. Der westlich orientierte Teil ihrer Bevölkerung wird sich nicht mehr unterjochen lassen, die Ukraine wird eine schwärende Wunde im russischen Gefüge sein. Und so fügt sich Putins Gerede von mehr Sicherheit von selber ad absurdum – er steht nun erst recht direkt Nato-Staaten gegenüber und die innere Sicherheit verbessert der Krieg sicher auch nicht. Fraglich ist auch, ob bei aller Propaganda die russische Bevölkerung die absehbare Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage nicht doch früher oder später ihrem Herrscher anlastet und aufzumucken beginnt. Was als ein Schritt zur Rückkehr alter Grösse gedacht ist, könnte sich als Auftakt zum Endspiel der Ära Putin erweisen. Es ist bodenlos traurig, dass bis dahin unschuldigen Menschen unermessliches Leid widerfährt. Tobias Graden

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