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Brügg

Lösungsmittel sorgte für den grossen Knall

Vor 50 Jahren kam es in der Müra, wie die Müve damals hiess, wegen unsachgemäss entsorgtem Sondermüll zu einer Explosion. Auch heute noch knallt es gelegentlich in Kehrichtverbrennungsanlagen, wenn gefährliche Stoffe mitgeliefert werden.

Die Müve musste vor 50 Jahren nach einer Explosion einen Monat lang geschlossen werden. Bild: Peter Samuel Jaggi
  • Dossier

von Andrea Butorin


«Wie ein Lauffeuer verbreitete sich gestern über die Mittagszeit die Meldung, es habe sich in der Müra eine Explosion ereignet.» Mit dieser nicht wirklich angebrachten Metapher beginnt der Bericht vom 28. Juni 1968 im «Bieler Tagblatt» über einen Zwischenfall mit Folgen für die Brügger Kehrichtverbrennungsanlage. Die Explosion wurde in der späteren Berichterstattung als «sehr heftig» taxiert.
Gemäss dem damaligen Vizepräsidenten der Müra, heute Müve Biel-Seeland AG, stand schon am selben Tag fest, «dass kein Sprengkörper die Ursache der Explosion sein kann». Vielmehr wurde vermutet, dass ein Lösungsmittel wie Benzin oder Azeton in der Müra entsorgt wurde, verdampfte und die Explosion auslöste. Zwei Personen, die sich ausserhalb des Gebäudes befanden, wurden leicht verletzt, während zwei Arbeiter im Betrieb mit dem Schrecken davonkamen.
Der Schaden wurde auf mehr als 100000 Franken geschätzt, «aber er wird sich unter keinen Umständen der halben Million nähern». Aufgrund der Zerstörung rechnete die Müra bereits am Tag der Explosion mit einer Schliessung von rund einem Monat. In der Folgewoche wurde die Kompost-Anlage ausgeräumt, und für die Instandstellung der Lüftungsanlage wurde zehn Tage berechnet. Die Inbetriebnahme der Mühle werde vier bis acht Wochen beanspruchen.
 

«Gedankenlosigkeit»
Als Folge der Explosion liess die Müra ein überarbeitetes Abnahmereglement in alle Haushalte verteilen. «Es dürfte nicht mehr vorkommen, dass in Containern ganze Motorblöcke versteckt zu finden sind, und dass man meterlange Eisenrohre der Abfuhr übergibt, ohne die Müra speziell darauf aufmerksam zu machen», heisst es im Bericht. Denn ein ebensolches Eisenrohr habe ein Loch im Laufband verursacht, so dass dieses repariert werden musste. Und wie gefährlich die Entsorgung von Lösungsmitteln sei, habe sich nun ja mit aller Deutlichkeit gezeigt.
Eine Woche später berichtete das BT, dass der Explosionsherd inzwischen eindeutig im Übergabetrichter festgestellt wurde. Von der betroffenen Anlage sei praktisch nichts mehr übrig geblieben. Die übrigen Installationen hätten jedoch keinen Totalschaden erlitten. Das Mühlewerk I werde seinen Betrieb Ende Juli wieder aufnehmen können, während das zweite Mühlewerk bis Ende August ausser Betrieb sein wird.
Auch im Folgebericht warnte das BT vor der «Gedankenlosigkeit» der falschen Abfallentsorgung. «Man stelle sich einmal vor, ein Lastauto explodiere mitten in der Stadt», heisst es etwa, und gemeint ist ein Kehrichtwagen mit fälschlicherweise entsorgtem Sondermüll.
 

Es passierte im Shredder
Weil die Berichterstattung vor 50 Jahren sehr technisch ausgefallen ist, stellt sich die Frage:Was ist damals genau passiert? Britta Freidl vom Verband der Betreiber Schweizerischer Abfallverwertungsanlagen (VBSA) kennt die Antwort:«Die grösste Explosionsgefahr in einer Kehrrichtverbrennungsanlage liegt im Shredder-Bereich.» Dieser sei im Bericht als Mühlewerk bezeichnet worden und sei eine Anlage, die groben Sperrmüll zerkleinert, damit dieser anschliessend im Ofen verbrannt werden kann. «Landet Sondermüll wie Lösungsmittel in der Verbrennungsanlage, dann kann es auch heute noch eine Explosion auslösen», sagt Freidl. Dies komme etwa alle ein bis zwei Jahre vor. Das Risiko habe in den letzten Jahren allerdings stark abgenommen, ergänzt Hardy Bolz, Betriebsleiter der Kebag AG in Zuchwil, der zweitgrössten Kehrichtverwertungsanlage der Schweiz. Der Grund liege nicht nur in der Sensibilisierung der Lieferanten und der Kehrichtverbrennungsanlagen, sondern auch in Anpassungen der Gesetzgebung.
 

Handgranate im Müll
Die letzte grosse Explosion ereignete sich vor zwei Jahren in St. Gallen:Damals wurden fünf Personen verletzt. «Im Grunde handelte es sich um eine Verpuffung», sagt Britta Friedl, womit eine Zündung von angesammelten explosiven Gasen gemeint ist: Die spätere polizeiliche Untersuchung habe ergeben, dass sich Baukartuschen mit vier bis fünf Kilogramm zündfähigem Material im Abfall befanden. 2014 gab es in Weinfelden eine Explosion in der Kehrichtverbrennungsanlage:Dies wegen einer fälschlich angelieferten Ladung Spraydosen.
Damit nicht genug gefährlicher Abfallsünden: 2004 stiess die Luzerner Kantonspolizei innert kurzer Zeit gleich mehrmals auf hochexplosiven Abfall. Darunter befand sich Sprengstoff sowie eine Handgranate aus dem Ersten Weltkrieg.
 

Risiko eliminiert
Heute seien die Bereiche, in denen die Shredder arbeiten, im Vergleich zu 1968 mit Überwachungselektronik und Brandschutzvorrichtungen ausgerüstet, sagt Freidl. Die Shredder-Zone sei auch nicht zugänglich, solange die Anlage laufe. Eingebaute Berst-Vorrichtungen im Shredder- und Bunkerbereich sollen den Druck einer eventuellen Explosion abführen und so helfen, grössere Schäden zu vermeiden. Denn völlig eliminieren könne man das Explosionsrisiko nicht:Das liege ganz in den Händen der Abfallverursacher.
 

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Abfall in Zahlen
- In der Schweiz entsorgen 30 Kehrichtverbrennungsanlagen jährlich vier Millionen Tonnen Abfall.
- Damit liefern sie pro Jahr 3,7 Millionen Megawattstunden Wärme und 1,8 Millionen Megawattstunden Strom.
- Ausserdem werden jährlich 57'000 Tonnen Eisen, 9'100 Tonnen Aluminium, 770 Tonnen reinstes Zink und 9'500 Tonnen Nichteisen-Metalle wie Kupfer gewonnen.


Quelle: Verband der Betreiber Schweizerischer Abfallverwertungsanlagen (VBSA)

Stichwörter: MÜVE, Müra, Brügg, Explosion, Kehricht

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