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Biel

Luicina, 73, braucht Weihnachten

Luicina weiss, was es heisst, vorsichtig zu sein. Wenn sie einkaufen geht, desinfiziert sie nebst den Händen auch gleich den Einkaufswagen mit. Aber Weihnachten will sie sich nicht nehmen lassen.

Bei Luicina zuhause steht eine Winterwunderlandschaft wie aus dem Bilderbuch. Sie mag alles, was schön aussieht, und will dies mit ihren Liebsten teilen. haf
Hannah Frei
 
Luicina hat zurzeit selten Besuch. Dabei wäre in ihrer kleinen Wohnung in Biel doch alles geschmückt, alles bereit für die Adventszeit, für Weihnachten: Auf dem langen Esstisch stehen die vier dicken, roten Adventskerzen adrett nebeneinander, geschmückt mit Tannennadeln, Tannenzapfen und getrockneten Orangenscheiben. Auf dem Balkontisch glänzen silberne Sterne und Kugeln an einem kleinen Tannenbaum. Und auf dem Holzmöbel neben der Eingangstür steht eine Winterlandschaft wie aus dem Bilderbuch: unzählige Lichter, Kinder im Schnee, Schlitten, Häuser, Tannen. «Mit gefällt alles, was schön aussieht», sagt Luicina, und schaut rüber zu ihrer selbst aufgebauten Winterwunderlandschaft.
 
Sie hat zum Interview zu sich nach Hause eingeladen, wo sie alleine wohnt – und wo sich zurzeit kaum jemand mehr hin traut. Die beiden Enkel sind seit Beginn der Pandemie nicht mehr vorbeigekommen, der Sohn seltener, ihre Freunde ebenso, und die Schwester, über 80 Jahre alt, kommt nur noch auf einen Kaffee vorbei, auf Distanz. Zu gross ist die Angst, Luicina mit dem Coronavirus anzustecken. Sie ist 73 Jahre alt, hat Schilddrüsenkrebs hinter sich und leidet an der rheumaähnlichen Krankheit Fibromyalgie.
 
«Ehrlich gesagt fürchte ich mich schon sehr vor dem Virus», gibt Luicina zu, während sie zwei Tassen Kaffee auf ihren Esstisch stellt und sich auf einem der Stühle niederlässt. Einsperren lassen wolle sie sich aber nicht. «Ich habe viel erlebt und eine harte Haut am Rücken. Zudem bin ich ein Löwe und weiss, wie ich kämpfen muss», sagt sie.
 
Diskutieren und berichten will sie gern, sich fotografieren lassen aber nicht, genauso wenig wie ihren vollen Namen in der Zeitung veröffentlichen. Was sie erzählt, sei zu privat.
 
Stärke zeigen und trotzdem Schwäche zulassen, sich nicht total isolieren und trotzdem vorsichtig sein, das ständige Abwägen gehört seit Beginn der Pandemie zu Luicinas Alltag.
 
Die zweite Welle ist anders
Wenn sie an die erste Welle im Frühling zurückdenkt, sind es die Reaktionen der Jungen, die ihr besonders in Erinnerung geblieben sind. Die meisten hätten damals einen grossen Kreis um sie gemacht, wenn sie auf dem Trottoir durch die Strassen ging. Als ältere Frau sei sie nur noch als Bedrohung wahrgenommen worden. So, als müsste nun jeder und jede auf sie Rücksicht nehmen, sie gar als das Schuldige der Pandemie sehen. Das sei manchmal schmerzhaft gewesen. «Ich war doch keine Bedrohung für sie. Und ich kann gut auf mich selber aufpassen», sagt Luicina.
 
Das sei bei der zweiten Welle anders. Die Jungen seien hilfsbereiter. Kreise würde heute kaum mehr jemand um sie machen. Das Miteinander sei wieder in den Vordergrund gerückt. «Vielleicht kann die Gesellschaft ja doch noch etwas von dieser Pandemie lernen», sagt Luicina hoffnungsvoll.
 
Doch nun steht erst einmal Weihnachten vor der Tür. Ein besonderes Fest für Luicina: An Weihnachten und Ostern komme die ganze Familie zusammen. Eine Tradition. Dann werde dekoriert, gegessen, geschwatzt. Weihnachten ohne ihre Liebsten kann sich Luicina kaum vorstellen. Letztes Jahr musste sie bereits auf ein Fest verzichten, wegen einer Schulterfraktur. Umso wichtiger sei es für sie, dass es diese Weihnacht ein Fest bei ihr Zuhause geben kann, mit ihrem Sohn, seiner Partnerin und den beiden Enkeln.
 
An Ostern fiel das Familienfest ebenfalls aus. Da war das Virus noch zu unberechenbar, zu präsent, zu neu. Heute sei das anders – obwohl die aktuellen Fallzahlen keine Entwarnung geben. Aber: «Wir wissen nun mehr darüber, wie wir beim Treffen das Risiko reduzieren können.» So werde am Weihnachtstisch auf genügend Abstand geschaut und regelmässig gelüftet. Umarmungen wird es keine geben, ausser vielleicht einen kurzen Drücker von ihrem Sohn. Das will sich Luicina seit Beginn der zweiten Welle nicht mehr nehmen lassen. «Er umarmt mich, weil er weiss, dass ich das brauche», sagt sie. Das war im Frühling auch anders. Damals hiess es noch: Abwarten. Heute will Luicina nicht mehr warten, besonders nicht auf eine Umarmung ihres Sohnes.
In den Tagen vor dem Weihnachtsfest werden zudem alle Familienmitglieder ihre Kontakte auf ein Minimum reduzieren. Das habe man untereinander so abgemacht, sagt Luicina. «Wir werden so vorsichtig sein wie möglich», sagt sie. Und Luicina weiss, was es heisst, vorsichtig zu sein.
 
Pumpen in der Migros
Seit Ende April trägt Luicina stets ein Hygiene-Etui in ihrer Tasche. Händewaschen, desinfizieren und Handschuhetragen ist längst zur Routine geworden. Der Gang zum Briefkasten: Zuerst werden die Hände desinfiziert, dann geht sie die Treppe runter, ohne sich am Handlauf festzuhalten. Den Briefkasten öffnet sie mit einem Taschentuch in der Hand. Beim Raufgehen legt sie besagtes Taschentuch auf den Handlauf und gleitet so nach oben. Zuhause werden die Hände dann erneut gewaschen und desinfiziert. Und wenn sie das «Bieler Tagblatt» fertig gelesen hat, kommt nochmals der Gang zum Desinfektionsmittel. «Man gewöhnt sich an alles im Leben», sagt Luicina.
 
Das Busfahren sei jedoch mühsam: Wenn der Bus voll ist, wartet Luicina manchmal auf den Nächsten. Und vor dem Einsteigen zieht sie ihre Latexhandschuhe an. Wenn sie keinen Sitzplatz findet, auf dem sie genügend Abstand zum nächsten einhalten kann, geht sie ganz nach hinten, hält sich dort an der Stange fest und dreht sich zum Fenster, weg von den anderen Fahrgästen. Und wenn viele Leute im Bus sind, er aber nicht an jeder Station anhält, drückt Luicina manchmal einfach den Halteknopf, um ein wenig frische Luft reinzubringen. «Das ist unter diesen Umständen sicherlich gestattet», sagt sie und lächelt.
Einkaufen geht Luicina regelmässig. Dabei verfolgt sie immer dieselbe Strategie: Die Handschuhe sind übergestülpt, das Taschentuch bereit. Damit geht sie in der Migros zum Stand mit dem Desinfektionsmittel, und pumpt, bis das Tuch voll ist. Weiter geht’s zum Einkaufswagen. Luicina desinfiziert alle Stellen, die sie berühren wird: vorne, hinten, beide Seiten. «Auf Metall bleiben die Viren ja bekanntlich lange», sagt Luicina. Danach geht’s noch einmal zur Pumpstation, diesmal für die Hände. «Manche Leute wundern sich bestimmt, weshalb ich so lange pumpe. Aber das gehört halt zu meiner Routine.» Und falls das Desinfektionsmittel einmal leer sein sollte, hat sie in ihrem Hygiene-Etui immer eine Reserve parat. Nach dem Einkauf werden die Hände nochmals desinfiziert, zuhause gewaschen und erneut desinfiziert. Raue Hände habe sie dank der Neutrogena-Créme nie, «das ist die Beste».
 
Den Moment mehr geniessen
Luicina hat sich also arrangiert. Und doch vermisst sie vieles: die Umarmungen, das Zusammensein, die langen Gespräche. Luicina erzählt viel. Gelebt habe sie, geliebt, getrauert, gekämpft. Und doch würde sie in ihrem Leben etwas Zentrales anders machen, wenn sie nochmals von vorne beginnen könnte: «Ich würde den Moment mehr geniessen, nicht nur krampfen.» Aber einer dürfe dabei nicht fehlen: Ihr «Büebu». Er sei ein Goldschatz und werde es immer bleiben. Aufgewachsen ist Luicina mit fünf Geschwistern in einer Seeländer Gemeinde. «Wir hatten einen wunderbaren familiären Zusammenhalt», sagt Luicina. Das ist, was ihr wirklich wichtig ist, auch heute noch.
Der Kaffee ist mittlerweile kalt geworden. Und kalten Kaffee trinke man bei ihr nicht, sagt Luicina, steht auf und macht einen neuen. Sie ist gerne Gastgeberin, eine gute. Und sie kocht gerne, manchmal auch gleich mit für ihren Sohn und seine Familie. Er komme dann am Abend vorbei und hole die Lasagne, die Omeletten oder den Sauren-Mocken ab. Für sich alleine würde sie solche Mahlzeiten bestimmt nicht mehr kochen. «Aber es freut mich sehr, wenn ich anderen etwas Gutes tun kann. Ich überrasche gerne», sagt Luicina. Und zwar nicht nur die Familie, sondern auch ihren Arzt, die Coiffeuse, die Podologin. Ihnen bringe sie immer mal wieder etwas mit.
 
Was ihr Halt gibt
Obwohl Luicina ihre Liebsten zurzeit kaum sieht, hat sie regelmässig Kontakt, meist via Whatsapp. Am meisten freut sie sich über Videos und schöne Bilder. Zum Beispiel vom Tanzen. «Das reisst mich sofort mit», sagt sie. Über Whatsapp kann sie auch den Kontakt zu ihren ehemaligen Klassenkameraden aufrechterhalten. Normalerweise treffen sie sich jährlich im April, dieses Jahr jedoch nicht. «Das fehlt uns allen sehr», sagt sie. Von ihnen ein Video zu erhalten oder schon nur ihren Status auf Whatsapp anschauen zu können, gibt Luicina viel. Einen Aufsteller, eine Neuigkeit, ein Gemeinschaftsgefühl.
 
Dankbar ist sie auch für die Unterstützung von Pro Senectute. Wenn sie über Cyrill Hofer spricht, Regionalleiter von Pro Senectute Biel-Seeland, kommt sie gar ins Schwärmen. Er habe sich immer mal wieder bei ihr gemeldet, gefragt, ob sie Hilfe benötigt, und manchmal auch einfach mit ihr geplaudert. «Er ist ein toller Mann», sagt sie. Auf seinen Wunsch hin hat sie sich bereit erklärt, dem BT ihre Geschichte zu erzählen. Von sich aus wäre ihr dies wohl nie in den Sinn gekommen, sagt sie.
Und auch die Besuche beim Hausarzt oder dem Physiotherapeut seien für sie jedes Mal ein Ereignis. «Das sind so positive Menschen. In dieser Zeit sind solche unglaublich wichtig», sagt sie.
 
Luicina spricht gerne übers Leben, denkt aber auch über den Tod nach. «Ich frage mich manchmal: Wars das jetzt? Dabei habe ich das Gefühl, ich würde jetzt erst richtig anfangen zu leben.» Aber für alle Fälle ist Luicina vorbereitet: Sie hat eine Patientenverfügung, lebensverlängernde Massnahmen will sie nicht.
 
Die Verfügung hatte sie jedoch bereits vor der Coronapandemie. «Ich will, dass meine Familie mich jederzeit besuchen kann», sagt sie. Abschiednehmen sei wichtig. Das dürfe nicht zu kurz kommen. «Sonst findet man keine Ruhe», sagt sie. Und es sei wichtig, im Vorfeld zu klären, was nach dem Tode für die Hinterbliebenen zu tun ist, um ihnen die Last von den Schultern zu nehmen.
 
Die Gedanken an den Tod sind aber bald verschwunden, als Luicina aus dem Fenster in die Ferne schaut. Sie sieht über die Dächer von Biel bis zum Jurahang, auf dem eine leichte Schneedecke liegt. «Dieser Ausblick ist doch viel wert.» Sie sei halt eine Romantikerin, schon immer gewesen. Sie denkt an Weihnachten, an ein besinnliches Fest, an eine schön geschmückte Tafel. «Ich hoffe, dass die Menschen trotz allem eine schöne, warme und gemütliche Weihnachten feiern können, und das alle mit frischer Hoffnung in das neue Jahr starten», sagt sie.
 
Es entsteht der Eindruck, dass Luicina nicht viel braucht, um zufrieden zu sein. Wahrscheinlich ginge es im schlimmsten Fall dieses Jahr sogar ohne Weihnachten. Aber die Sehnsucht nach einem Fest, nach ihren Liebsten drängt die Angst vor einer Ansteckung in den Hintergrund – zumindest für den einen Heiligen Abend.

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